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Die Gruppe, der ich nach dem Aussteigen in Polis zum Ausgang der Bahnhofshalle folge, ist schon merklich kleiner als vor gut einer Woche

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Die Gruppe, der ich nach dem Aussteigen in Polis zum Ausgang der Bahnhofshalle folge, ist schon merklich kleiner als vor gut einer Woche. Und nervöser.
Ich bin es komischerweise nicht, denn ich weiß, dass ich mich vorbereitet habe. Weil ich mir nicht sicher bin, was geprüft werden wird, habe ich vorsichtshalber die gesamte Kunstgeschichte auswendig gelernt. Außerdem habe ich gestern den ganzen Nachmittag Proportionen geübt und mein fehlendes Wissen über Malerei aufgestockt.
Eigentlich geht es mir sogar ganz gut, als ich nach draußen trete und wieder einmal die Hochhäuser bestaune.
Aber trotzdem habe ich das Gefühl, ich würde mir selbst etwas vormachen, etwas vorspielen. Heute vor zwölf Jahren ist mein Bruder gestorben.
Mein Herz fühlt sich an, als würde es von einer eisigen Faust gehalten werden und nur ein Schritt in die falsche Richtung würde genügen, damit sie es zerquetscht. Die Luft, die mich umgibt, fühlt sich gefährlich, risikoreich ein. Spannungsgeladen, bereit zum Explodieren, sobald ich etwas Falsches tue.

Die Gruppe teilt sich auf, die Achtzehnjährigen gehen verschiedene Wege. Die meisten führen zu dem großen Gebäude, in dem auch Phase 1 stattgefunden hat, doch meiner nicht. Im Beruf des Künstlers werden sich vermutlich neben mir nur wenige prüfen lassen, deswegen sind wir einem anderen, kleineren Gebäude zugeteilt. Ich habe auf den Plan gesehen, den wir zugeschickt bekommen haben - bei den Musikern ist es das Gleiche.
Ich würde mich nicht wundern, wenn ich komische Blicke von Umstehenden ernten würde, als ich besagtes kleine Haus betrete - jegliche Form von Kunst sieht der Großteil der Bevölkerung als unnütz, als etwas, das der Leistungsbereitschaft im Weg steht, wenn man sich von ihr ablenken lässt. Doch anscheinend halten sich die Menschen auf den Straßen zurück - oder ich bemerke sie nicht, weil sich meine Aufmerksamkeit wie von selbst auf das Gebäude richtet. Es hat zwei Stockwerke - vergleichsweise wenig - und Schaufenster, in denen Skulpturen und Statuen aus Stein und Ton stehen. Ich betrachte sie fasziniert, studiere die Gesichtsausdrucke der Abbildungen von Menschen, widerstehe dem Drang, das Glas anzufassen. Die einzige Statue, die ich jemals gesehen habe, steht vor der Bahnstation zuhause. Sie ist aus einem eisenartigen Material, das sich über die Jahre hinweg grünlich verfärbt hat, und zeigt einen Ritter mit einem Pferd. Wenn ich früher an ihr vorbeiging, fragte ich meine Mutter immer, wieso der Mann auf dem Pferd so grimmig dreinschaute. Manchmal, wenn sie nicht hinsah, habe ich die Lanze der Statue angefasst und mich gefragt, wie sich wohl eine Waffe in meiner Hand anfühlen würde. Eine echte.
Dann ist immer meine Mutter aufgetaucht und hat mich weitergezerrt.

Die Statuen im Schaufenster kann ich auch nicht unbegrenzt lange anschauen. Als mein Blick auf den Bildschirm in meiner Hand fliegt - die Armbanduhr meiner Mutter habe ich im Bad liegen lassen, weil ich sie irgendwie nicht anziehen wollte - ist es höchste Zeit, reinzugehen. Ich werfe den Statuen einen enttäuschten Blick zu und beschließe, sie nach dem Test nochmal zu betrachten, dann gehe ich zu der breiten, gläsernen Tür und trete ein.
Das Haus sieht von innen größer aus, als es von außen erscheint. Trotzdem wirkt es voll, weil wirklich jeder Platz an den Wänden mit Kunstwerken behängt ist, jede Ecke mit einer Staffelei oder einer Statue ausgestellt ist.
Ich habe mich mal gefragt, wohin die ganzen Kunstwerke nach der Verabschiedung des neuen Gesetzes verschwunden sind.
Jetzt weiß ich es.

„Zum Test?", reißt mich eine Stimme aus den Gedanken. Ich wirbele herum und entdecke eine Frau am Tresen. Ihre schlichte schwarze Kleidung bildet einen starken Kontrast zu den farbenfrohen, beinahe unordentlich wirkenden Wänden, sodass ich vermute, dass sie nur wegen dem Test hier ist.
Auf ihre Frage antworte ich mit einem Nicken.
Sie lächelt dünn. „Da gehts lang", sagt sie und deutet zur Treppe.
Auch wenn ich das Gefühl habe, dass der Blick, mit dem sie mich für einen Moment mustert, ein wenig abwertend ist, bemühe ich mich um ein freundliches Lächeln. „Danke."

Ich erklimme die Treppe neben einem weiteren Achtzehnjährigen, der mir knapp zunickt. Er hat dünnes, dunkles Haar und die Brille, die er trägt, rutscht bei jeder Treppenstufe ein Stückchen weiter nach unten. Beinahe will ich ihn darauf hinweisen, weil er es kaum bemerkt - sein Blick ist fest nach vorne gerichtet -, doch ich entscheide mich dagegen.

Er schnauft, als wir oben angekommen sind. Ich werfe ihm einen irritierten Seitenblick zu - es waren ja nur zwei Stockwerke und ich selbst bin nicht angestrengt. Gemeinsam laufen wir einen Gang entlang bis zu einem Zimmer, dessen Tür offensteht. Der Junge bedeutet mir, dass ich zuerst reingehen soll. Ich zögere einen Augenblick, dann lächele ich ihm kurz zu und betrete den Raum. Er ist etwa doppelt so groß wie das Klassenzimmer, in dem ich in der ersten Phase war, und hat eine Fensterfront, durch die die Morgensonne hineinstrahlt. Rechts von mir sind Stuhlreihen und ein kleines Podium aufgebaut, links von mir befinden sich Staffeleien mit Leinwänden. Ich schlucke kurz, als ich daran denke, dass ich noch nie in meinem Leben damit gemalt habe, aber verdränge den Gedanken schnell. Nur, weil dort Leinwände stehen, heißt es nicht, dass ich damit malen muss, beruhige ich mich selbst. Und wenn doch, werde ich schon irgendwie damit klarkommen. Der Test dauert schließlich mehrere Stunden.

Auf den Stühlen sitzen bereits einige junge Erwachsene. Ich beiße mir auf die Unterlippe, mein unruhiger Blick schweift zu der runden Uhr an der Wand rechts daneben. Noch zehn Minuten. Wieso bin ich nur so früh reingegangen?, frage ich mich und kaue frustriert an meinem Daumennagel herum. Jetzt muss ich zehn Minuten einsam in irgendeiner Ecke sitzen und so tun, als würde ich nicht bemerken, dass ich die einzige bin, mit der niemand redet.
Sehr schlau gemacht, Avelaine, rüge ich mich selbst und seufze leise.
Doch es kommt nicht einmal soweit, dass ich alleine sitze. Als ich langsam einen Fuß vor den anderen setze und mit wachsendem Unwohlsein die Stuhlreihen entlanggehe, schaut plötzlich ein Mädchen in der dritten Reihe hoch und grinst mich an. „Kannst dich zu mir setzen. Mir ist langweilig."
Ich werfe einen Blick nach hinten, um mich zu vergewissern, dass sie tatsächlich mich meint, was sie mit einem irritierten Blick quittiert, dann erwidere ich ihr Lächeln vorsichtig und setze mich schnell auf den Stuhl links neben sie, bevor sie sich es anders überlegt.
Das erste, was mir auffällt, sind ihre kurzen braunen Haare, von denen die vordersten Strähnen rot gefärbt sind. Für einen Moment frage ich mich, was meine Eltern dazu sagen würden, wenn ich so aussehen würde, doch ich schiebe den Gedanken schnell in die hinterste Ecke meines Kopfes.
Meine Eltern sind nicht hier und ich bin die einzige, die das Recht hat, über mich und mein Aussehen zu bestimmen.

Intelligent - Phase 3Where stories live. Discover now