ҜΔPITΣL 23.2

263 28 0
                                    

„Hey, wir sollten mal reden." Laurent lehnt an der Zimmertür und sieht mich zerknirscht an. Ich seufze leise und erwäge kurz, mich einfach an ihm vorbeizudrängeln, doch dann nicke ich. Ein Gespräch zwischen uns ist schon lange überfällig.

Unter seinen Augen zeichnen sich deutliche Schatten ab, er scheint sich immer noch nicht ganz von Sonntagnacht erholt zu haben. Auch wenn mir das eigentlich egal sein sollte, habe ich unwillkürlich Mitleid mit ihm.

„Die Sache mit Sonntag tut mir wirklich leid."

„Das sollte es dir auch", schieße ich zurück, bevor ich die Worte aufhalten kann.

Laurent sieht verletzt zu Boden, aber er nickt. Dann hebt er den Blick wieder, um mich ernst anzusehen. „Das war nicht ich."

Mein Herz wird schwer, aber ich zwinge mich, seinem Blick standzuhalten. „Ich weiß."

Er nickt erneut und schiebt unruhig seine Hände in seinen Jackentaschen herum.

„Raus damit."

Laurent lächelt gequält, bevor er die Hände aus den Taschen nimmt. „Ist es denn ... wahr?"

„Was?", frage ich nach, obwohl ich vermute, was er meint.

„Dass du und Phoenix ...?"

„Nein", sage ich bestimmt. „Und auch wenn ... du hast mir deutlich klargemacht, dass du nichts mehr von mir willst." Ich atme tief aus. „Weißt du denn überhaupt, was du bei der Party zu mir gesagt hast?"

Verlegen schüttelt Laurent den Kopf. „Ich war ziemlich ... neben der Spur."

„Hat man gemerkt", sage ich trocken.

„Was auch immer es war, es tut mir leid."

Vielleicht sollte ich ihm jetzt schon verzeihen, damit er sich nicht weiter schlecht fühlt, doch etwas in mir hält mich zurück. „Du hast gesagt, ich würde mir meine Punkte erschlafen." Seine Worte haben mich verletzt, er soll wenigstens wissen, dass er sie zu mir gesagt hat.

Laurent zieht scharf die Luft ein. „Autsch. Ich kann wirklich ein Arschloch sein."

Ich zwinge mich zu einem kleinen Lächeln. „Schön, dass du das auch mal bemerkt hast." Ich lehne mich ein wenig vor, sodass er zurückweicht, und schlüpfe durch die Tür. „Nur damit du das weißt - ich habe mir jeden einzigen meiner Punkte verdient."

„Das weiß ich, aber -"

„Nichts aber. Wenn du so etwas noch einmal sagst - egal in welchem Zustand -, dann bringe ich dich um." Ich werfe ihm einen Blick zu, der bekräftigt, dass ich meine Worte ernstmeine, dann wende ich ihm den Rücken zu.

Mit klopfendem Herzen laufe ich in mein Zimmer und ziehe mir frische Kleidung an. Seine Behauptung, dass ich nur Zeit mit Phoenix verbringen würde, weil ich mir einen Vorteil davon erhoffe - schlimmer; meinen Körper dafür verkauft hätte, hat mich getroffen - er soll ruhig ein wenig leiden. Vielleicht ist es eine Schwäche von mir, dass ich mir das so zu Herzen nehme. Aber da ich mein bisheriges Leben im Schatten meiner Familie verbracht habe und mir oft gesagt wurde, dass beispielsweise meine guten Noten nur an meinen Genen liegen, obwohl ich jede Nacht durchgepaukt habe, will ich nun endlich meinen eigenen Namen hören, wenn man über meinen Erfolg redet. Nicht den meiner Familie, und keine anderen Gründe als harte Arbeit.

In den letzten zwei Tagen vor der Prüfung am Freitag trainiere ich noch länger als sonst. Nicht weil die Ausbilder es von uns verlangen, sondern freiwillig. Während ich den Kopf freibekomme und meine Schlagtechnik verbessere, baumelt das lederne Band, dass ich der toten Mutation abgenommen habe, um meinen Arm. Abends liege ich mit Phoenix auf der Lichtung und beobachte den Sternenhimmel, und er erzählt mir davon, wie sein Vater von seinen Fähigkeiten erfahren hat. Nachdem der anfängliche Schock überwunden war, hat er ihm erstmal geholfen, seine Identität zu verstecken - bis er in die dritte Phase kam. Als er mir wie nebenbei erklärt, dass auch seine Testergebnisse gefälscht wurden, damit er in der dritten Phase die nötige Ausbildung dafür erhalten würde, muss ich erstmal durchatmen. Das ist also der Grund dafür, dass ich so unfassbar wenig Punkte hatte. Dass ich es auch körperlich mit anderen aufnehmen kann und meine Fähigkeiten geschützt und nicht vergeudet werden. Am liebsten würde ich meiner Mutter schreiben, dass meine Ergebnisse gefälscht wurden und ich nicht gescheitert bin - auch wenn es bei ihr vermutlich ähnlich abgelaufen ist. Und darum habe ich mir so viele Sorgen gemacht. Unfassbar.

Ich frage mich, wie meine Mutter es geschafft hat, so enttäuscht dreinzublicken, als ich von meinem Misserfolg in der ersten Phase erzählt habe. Sie hat schließlich gewusst, dass die Ergebnisse gefälscht waren. Sie hat alles gewusst. Oder doch nicht? Wegen meiner Nachricht weiß sie nun, dass ich ebenfalls eine Seelenblickerin bin, aber war ihr das schon vorher klar?

Ich stelle meine Wasserflasche wieder weg und schüttele den Kopf, um die ganzen Gedanken in meinem Kopf zu verdrängen. Als ich wieder vor dem Boxsack stehe, schlage ich die Zweifel und Enttäuschung in meinem Inneren in das Leder ein.

***

Die Pläne mit den Informationen, wer wann am Tag der Abschlussprüfung dran ist, hängen am Donnerstagabend im Trainingssaal aus. Die Prüfung findet größtenteils in Abschnitt A statt. Am Donnerstag dürfen wir den Bunker den ganzen Tag nicht verlassen - nicht einmal Phoenix will mir verraten, was es damit auf sich hat. Zwischen Laurent und mir ist es nach wie vor merkwürdig, Sam verbringt viel Zeit mit Alda, und allgemein scheint die Luft im Speisesaal immer dicker zu werden. Die Anspannung spiegelt sich in immer mehr Gesichtern wider. In der Nacht vor der Prüfung können wir alle nicht schlafen, und die Tatsache, dass wir im Bunker eingesperrt sind und auch Phoenix mir nicht den Druck in meiner Brust nehmen kann, macht es für mich nicht besser. Um drei Uhr nachts wache ich schweißgebadet auf. In meinem Traum hat sich meine Mutter mit pechschwarzen Augen auf mich gestürzt. Meine Brust hebt und senkt sich, während ich versuche, zur Ruhe zu kommen. Wenigstens habe ich überhaupt ein wenig geschlafen, denke ich. Das ist besser, als ich erwartet habe.

Mein Puls rast, und ich sehe immer noch meine Mutter vor meinem inneren Auge. Ihr hübsches Gesicht ist seltsam entstellt, ihre Augen liegen so weit in ihren Höhlen, dass ich das Gefühl habe, von der Dunkelheit selbst angestarrt zu werden. Ihre Gesichtszüge sind ungewohnt scharf, von ihrer Wange tropft Blut.

Wie konnte ich das nicht bemerken?

Ich atme tief durch, bevor ich meine Füße über die Bettkante schwinge und in meine Stiefel schlüpfe. Sam neben mir grunzt leise, und ich bemühe mich, kein Geräusch von mir zu geben, als ich aus der Tür tapse, immer noch mit meinem Pulli von gestern Abend bekleidet. Der schwarze Stoff vermischt sich mit der Dunkelheit um mich herum.

Im Zimmer der Jungs angekommen landet mein Blick unwillkürlich auf dem unteren Bett des Stockbetts. Die weißen Laken sind immer noch zerknittert, ein schwacher Abdruck von Leben, ein leises Anzeichen, dass Uray einmal hier war, dass der leblose Körper, der jetzt vermutlich irgendwo unter der Erde liegt oder verbrannt wurde, existiert hat. Ich beiße mir auf die Unterlippe und trete auf den Gang.

Nur das leise Rauschen der Rohre durchbricht die Stille, die sich schwer auf meine Schultern legt. Meine Füße treiben mich voran, bis ich plötzlich vor dem Zimmer stehe, in dem Uray ermordet wurde. Nervös schaue ich mich um. Wenn man mich um diese Uhrzeit hier entdecken würde, würde ich wirklich Probleme bekommen. Doch die Gänge liegen genauso verlassen und geheimnisvoll vor mir wie in jener verhängnisvollen Nacht. Ich atme tief durch, jede Faser meines Körpers zum Reißen gespannt, bevor ich meine Finger an die Klinke lege und die Tür aufmachen will. Doch sie bewegt sich nicht. Verdammt. Abgeschlossen. Ich will gerade auf dem Absatz kehrmachen, als sich ein Lächeln auf mein Gesicht schleicht. In meinen Haaren taste ich nach der Spange, die ich gestern Abend ganz vergessen habe. Mit angehaltenem Atem löse ich sie aus meinen vom Schlaf verwuschelten Haaren und stochere damit im Schloss herum. Ich habe noch nie eine Tür aufgebrochen, deshalb dauert es einige angespannte Minuten, doch dann springt sie mit einem Klicken auf. Ich kann meinen schnellen Herzschlag in meinem ganzen Körper spüren, als ich in den Raum trete und auf den Lichtschalter drücke, der sich seltsam vertraut unter meinen Fingern anfühlt.

Der Raum ist abgesehen von einem Teppich, der in Verbindung mit den kühlen Steinwänden fehl am Platz wirkt, leer. „Du warst vorher noch nicht da", murmele ich leise. Mit einer Vorahnung beuge ich mich herunter und schiebe den Teppich ein Stück weg. Meine Vermutung bestätigt sich. An der Stelle, an der Uray gelegen hat, ist der Boden immer noch ein wenig bräunlich verfärbt, und ein beißender Gestank nach Säuberungsmittel steigt mir in die Nase. Kurz überlege ich, ob ich den Teppich wieder an seinen Platz rücken soll, doch ich entscheide mich dagegen und lasse auf meinem Rückweg sogar die Tür sperrangelweit offenstehen. Phoenix soll ruhig wissen, dass ich hier war.

***

Intelligent - Phase 3Where stories live. Discover now