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Es fühlt sich merkwürdig an, ohne Jonah zum Raum zu gehen

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Es fühlt sich merkwürdig an, ohne Jonah zum Raum zu gehen. Bisher war er in jedem wichtigen Moment meines Lebens dabei, aber jetzt bin ich auf mich allein gestellt. Als mir das klar wird, schlucke ich leicht, dann verdränge ich alle Gedanken an ihn, an mein mögliches Scheitern, an meine Familie und mein Zuhause aus meinem Kopf und richte meine volle Aufmerksamkeit auf den Test.
Er ist alles, was jetzt zählt.

Als ich den Raum finde und mich auf einen freien Platz setze, sind es noch zehn Minuten bis zum Test. Etwa zwanzig Leute befinden sich in dem Klassenzimmer, jeder vor einem Einzeltisch, der mich an meine Schulzeit erinnert. Nervöse Blicke werden ausgewechselt und auch meine Anspannung erreicht einen neuen Höhepunkt. Die Frau, die an dem vordersten Tisch sitzt - der wahrscheinlich eine Art Lehrerpult darstellen soll - hat braune, glatte Haare, die ihr Gesicht und ihren halben Rücken umrahmen, der Blick aus ihren ebenso dunklen Augen ist ernst. Sie schaut auf die Uhr an einer der Wände - es gibt tatsächlich eine - und wartet, bis es fünf Minuten vor zehn ist. Dann steht sie auf, die Leute um mich herum verstummen und sie lächelt - zumindest ist es das, was ich glaube, weil ich ihre Miene nicht wirklich von ihrem ernsten Gesichtsausdruck zuvor unterscheiden kann. Sie beginnt, die Testblätter auszuteilen - Bögen mit geschätzten zwanzig Seiten - und weist uns darauf hin, dass wir sie erst aufklappen dürfen, wenn sie es sagt - dabei schaut sie uns so scharf an, dass ich ihr sofort glaube, dass sie jeden kleinsten Versuch des Abschreibens bemerken und melden wird. Ich lege den Bogen sorgfältig neben die zwei Kugelschreiber, die sie uns bereitgestellt haben, und warte auf weitere Anweisungen. Die Frau, die wahrscheinlich eine Lehrerin ist, arbeitet die Anwesenheitsliste ab - bei meinem Namen stockt sie kurz und lächelt mir zu, als ich mich melde - bis plötzlich zwei Personen in den den Raum kommen. Genervt sehe ich hoch, als sie neben mir Platz nehmen - die einzigen zwei Plätze, die noch frei waren - und verdrehe die Augen, als das dürre Mädchen mit den langen Haaren dem groß gewachsenen Jungen einen schmachtenden Blick zuwirft. Ätzend, denke ich. Dieser Test entscheidet über Leben und Tod und alles, was sie davor zu tun haben, ist pünktlich zu kommen. Ich schüttele den Kopf und beschließe schnell, mich nicht weiter darüber aufzuregen. Außerdem will ich wirklich nicht wissen, was die beiden in den letzten Minuten getrieben haben.

„Nun, da wir alle sind", die Lehrerin wirft den beiden einen vernichtenden Blick zu, der das Mädchen kichern lässt, „können wir auch endlich anfangen." Sie schüttelt den Kopf, als würde sie jetzt am liebsten woanders sein, und räuspert sich dann. „Ihr habt ein und halb Stunden Zeit ab jetzt."

Ich schieße förmlich nach vorne und reiße die Blätter auseinander, nicht darauf achtend, was die anderen tun oder denken. Den Kugelschreiber habe ich selbstverständlich schon zum Schreiben bereit und so bin ich eine der ersten, die ihren Namen auf die dafür vorgesehene Linie kritzelt. Meine Augen fliegen förmlich über die Aufgaben und saugen alle Informationen in mich auf, während ich mit zitterndem Stift mal Antworten ankreuze und mal mehr hinschreibe, wenn mehr verlangt ist. Die Aufgaben sind in einem steigenden Niveau angeordnet, sodass ich leicht in den Test reinkomme, und sind vom Inhalt her sehr unterschiedlich. Manche zielen besonders auf Logik, andere auf mathematisches Verständnis, Vorstellungsvermögen, aber auch Konzentration. Die Aufgaben sind genau zu lesen, weil viele Fallen darin versteckt sind. Deshalb streiche ich auch oft meine Antworten durch, was mir anscheinend viele gleichtun, denn der Raum ist erfüllt von Papiergeraschel und dem hektischen Kratzen des Stifts auf das Papier. Ich blende alles um mich herum aus, bis ich etwa drei Viertel der Aufgaben beantwortet habe und eine Pause brauche. Ein Blick auf meine Uhr verrät, dass erst die Hälfte der Zeit um ist. Zufrieden gönne ich mir ein paar Sekunden Ruhe und lehne mich in meinem Stuhl zurück, während ich mein Blick durch den Klassenraum gleiten lasse - und mir prompt wünsche, das nicht getan zu haben. Der Junge neben mir, der zu spät gekommen ist, schielt auf mein Blatt. Schnell schieße ich ihm einen giftigen Blick zu. Wie kann er es wagen? Er grinst, aber scheint sich nicht darum zu scheren, dass ich es bemerke, dass er abschreibt. Fassungslos sehe ich ihn an und schüttele heftig den Kopf. Was soll ich denn jetzt machen? Mit gerunzelter Stirn schaue ich zu der Frau am Pult, die meinen Blick einen kurzen Moment lang erwidert. Soll ich es ihr sagen? Soll ich das Leben des Jungen riskieren? Seine Chance aufs Überleben ein Drittel oder weniger - je nachdem, wie der zweite Teil des Tests gewertet wird - sinken lassen, wenn ich ihn verrate? Unschlüssig sehe ich auf meinen Testbogen und drehe ihn kurzerhand um. Soll dieser Junge doch versuchen abzuschreiben, wenn ich wieder weitermache. Ich beschließe, es beim Verdecken der Lösung zu belassen. Wenn der Junge in der ersten Phase scheitern würde, wenn er disqualifiziert würde, könnte ich mir das nicht verzeihen.

Ich sehe auf und begegne seinem Blick. Meine Miene ist gefasst, meine Augen funkeln vermutlich aber immer noch. Er runzelt die Stirn, als sei er verwirrt... Ich verdrehe die Augen, als ich begreife. Er ist es wahrscheinlich gewöhnt, dass man ihn abschreiben lässt, weil er ziemlich gut aussieht. Wenn ich völlig hormongesteuert wäre, würde ich ihn mit großer Wahrscheinlichkeit attraktiv finden. Er hat gestylte, braune Haare - diese Schönlingsfrisur, für die er wahrscheinlich eine Menge Zeit im Bad braucht - und ebenso haselnussbraune Augen. Den Eindruck, dass er durchtrainiert ist, verstärkt er durch den V-Ausschnitt an seinem maßgeschneiderten Shirt, aus dem ein paar vereinzelte Brusthaare lugen.
Kein Wunder, dass das Mädchen ihn so angeschmachtet hat, schießt mir durch den Kopf, als er meinen Blick bemerkt und grinst.

Doch ich erwidere sein Grinsen nicht, sondern drehe meinen Testbogen um. Was für ein dämlicher Schmarotzer. Ich ignoriere die zugegeben brennenden Blicke in meiner Seite und falte den Bogen so, dass keine andere Seite mehr sichtbar ist als die, die ich gerade bearbeite, und mache mich an das letzte Viertel des Tests.
Dieser Junge sollte froh sein, dass ich keine Lust habe, zu petzen.

Intelligent - Phase 3Where stories live. Discover now