98. Kapitel

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Ryan ließ den Arm mit der Waffe sinken und wollte zurückweichen, aber einer von Larys Leuten war hinter sie getreten und hielt ihn davon ab, indem er ihn einige Schritte vorwärts auf Maya zu schob.

„Ich dachte du wärst loyal." Larys Stimme nahm einen drohenden Unterton an, als sie vor ihn trat. Sie gab dem Mann hinter ihm ein Zeichen, ihn loszulassen.

Ryan rieb sich die Oberarme, die der Mann fest gepackt gehabt hatte. Er schaute an Lary vorbei zu seiner Schwester, die, geknebelt, gefesselt und mit zerzausten Haaren und vor Wut und Angst blitzenden Augen noch immer von den beiden Männern festgehalten wurde.

„Lary, was soll das?", zischte er aufgebracht. Das konnte sie nicht von ihm verlangen!

Sie verschränkte die Arme vor ihrer üppigen Brust, die von ihrem eng anliegenden Strickpullover nur zu deutlich hervorgehoben wurde. „Ich stelle dir doch nur eine Frage, Ryan. Wem gehört deine Loyalität?"

Das konnte sie unmöglich ernst meinen!

„Verdammt, das ist meine Schwester, Lary! Sie hat mit all dem doch nichts zu tun!"

„Das stimmt." Lary trat dicht vor ihn und strich ihm über die Wange. „Aber ich muss wissen, wie ernst es dir ist", hauchte sie, als ihre Lippen über seinen Mund strichen, kaum mehr als ein Hauch und dennoch voll verführerischen Versprechens.

Er atmete ihren vertrauten, süßlichen Duft tief ein und für kurze Zeit war er bereit, alles für diese Frau zu tun.

Doch dann trat sie beiseite und gab damit die Sicht auf Maya frei. Der verständnislose, angsterfüllte Blick seiner Schwester huschte unruhig zwischen Lary und ihm hin und her.

„Maya." Er trat einen Schritt auf sie zu, wollte ihr erklären, was hier los war, ihr die Angst nehmen, die in ihren wunderschönen grünen Augen schimmerte. Es war ihr Todesurteil, hier zu sein.

Mit seiner Schwester verband Ryan unglaublich viel. All die Jahre hatten sie gemeinsam unter Josh und seinem Beruf gelitten und das hatte die beiden immer weiter zusammengeschweißt. Lange Zeit war sie die einzige Frau gewesen, die ihm je etwas bedeutet hatte.

Dann war ihm Lary begegnet und das hatte sein ganzes Leben, seine Lebensphilosophie, auf den Kopf gestellt. Zum ersten Mal hatte er geglaubt, so etwas wie Liebe zu empfinden. Er hätte sogar für Lary getötet.

Und jetzt stellte sie ihn vor diese Entscheidung: Lary und die Gruppe und damit sein Job und jegliche Sicherheit und soziale Kontakte, die er hatte, oder Maya, seine jüngere Schwester, der er vor Jahren versprochen hatte, sie immer zu beschützen, weil Josh das nicht für sie getan hatte.

„Warum überlegst du noch, Ryan? Bin ich dir so wenig wert?"

„Nein", antwortete er ohne zu zögern.

„Dann tu es." Larys Stimme war nicht mehr so verführerisch, wie gerade eben noch, sondern eine Nuance kälter und härter geworden, doch als hätte sie das nicht gewollt, wurde sie sofort wieder sanfter.
„Ich will das doch auch nicht, Ryan. Aber mein Bruder stellt nun mal deine Loyalität in Frage. Wäre ich nicht gewesen, würdest da jetzt du stehen, nicht Maya." Sie gab ihm einen leichten Kuss auf die Lippen.
„Sie ist deine Freikarte, Ryan. Aller Verdacht gegen dich würde fallengelassen werden. Wir könnten zusammenbleiben." Ihre letzten Worte waren nur noch ein Hauchen.

Ryan spürte, wie ein Zittern durch seinen Körper ging. Er blickte auf die Waffe in seiner Hand.

„Bitte, Ryan", flehte Lary. Dann sprach sie die alles entscheidenden Worte: „Ich liebe dich." Tränen schimmerten in ihren Augen.

Ryan hob die Waffe und zielte auf Maya.

Die Augen seiner Schwester weiteten sich vor Entsetzen, als sie begriff, worum es hier ging. Sie versuchte etwas zu sagen, aber durch den Knebel in ihrem Mund wurden alle ihre Worte zu einem unverständlichen Brei aus Silben.

Zögernd ließ Ryan seinen Arm wieder sinken. „Kann ich mit ihr reden?"

Lary schüttelte den Kopf und legte ihm eine Hand auf die Taille, als sie wieder leicht vor ihn trat. „Nein. Das würde es nur schlimmer machen, glaub mir."

Ryan suchte ihren Blick. Es war seine Entscheidung. Lary oder Maya. Maya oder Lary. Vergangenheit oder Zukunft.

Er hob zum wiederholten Mal die Pistole, prüfte, ob sie entsichert war und richtete den Lauf auf Maya.
Es war nicht so, dass er noch nie jemanden ermordet hätte, aber das hier...

Es war ein Test, wie weit er bereit war, zu gehen. Dummerweise wusste er das selber noch nicht.

Eine Träne lief über Mayas Wange. Sie sah ihn voller Entsetzen, Angst und Enttäuschung an, noch immer versuchend, sich aus dem Griff der beiden Männer zu ihren Seiten zu befreien, auch wenn ihr Widerstand schon um einiges nachgelassen hatte.

Es war kaum eine Stunde her, dass er noch mit ihr im Krankenhaus geredet und gelacht hatte und jetzt...

„Verdammt!" Ryan sicherte die Waffe wieder, warf sie auf Larys Schreibtisch und fuhr sich mit der nun freien Hand über das Gesicht. „Ich kann das nicht, Lary."

„Was?" Ihr Blick wurde kalt wie Eis und ihre blauen Augen funkelten wie gehärteter Stahl.

„Ich kann das nicht. Das ist meine Schwester!"

„Und ich dachte du würdest mich lieben!" Ihre Stimme drückte pure Verachtung aus und er wusste dass er es verdient hatte. „Aber nein, du stehst lieber zu Josh und Maya. Was ist damit, was du mir über sie erzählt hast? Wie sie dich verraten und verletzt haben?"

„Das hier ist aber nicht Josh, verdammt!", fluchte Ryan und machte eine ausholende Handbewegung.

„Ich verstehe schon, Ryan. Wasser kann man verleugnen, Blut nicht. Wahrscheinlich war ich für dich sowieso nur eine von vielen." Sie gab einem der Männer, die um sie herumstanden und alles mit ansahen, einen Wink. „Sandro, hol Ash."

Ryan kannte sie gut genug, um zu wissen, was sie vorhatte. „Lary!"

„Halt die Klappe, Ryan! Du hast es verbockt! Ich kann dir jetzt nicht mehr helfen."

Zwei Männer traten hinter ihn und hielten seine Arme fest.

„Deine Entscheidung lag nicht zwischen Tod und Leben für Maya." Sie trat vor ihn. „Du durftest nur auswählen, ob du sie umbringst, kurz und schmerzlos, oder ob es einer meiner Männer tut und du dabei zusehen wirst. Das war deine Entscheidung."

Ihre Stimme war bedrohlich kalt, ihre Augen blitzten, allerdings nicht vor Wut. Was er in ihrem Blick zu erkennen glaubte, war Schadenfreude.

Das war der Moment, in dem Ryan begriff, dass Lary ihn benutzt hatte. Sie hatte ihn nie geliebt.

Whatever It TakesWhere stories live. Discover now