8. Kapitel

80 15 2
                                    

Henry gab sich den ganzen Vormittag über Mühe, nicht an das bevorstehende Gespräch zu denken.

Er behandelte seine Patienten wie immer, half Amber bei ihrer ersten Thorax-Drainage und scherzte mit Lynn wie sonst auch, doch unterschwellig begleitete ihn die ganze Zeit die Angst, dass irgendetwas schief gehen könnte.

Er malte sich alle möglichen Szenarien aus, die meistens mit einer Schießerei endeten, weil er aufgeflogen war. Wahlweise starben Mark, Lynn, zahlreiche Patienten oder er selbst.

Unsicher warf er einen Blick zu seinem Bruder, der, getreu seiner Rolle, fünf Minuten vor dem Termin begonnen hatte, mit einer der Krankenschwestern zu flirten, während Josh in der Kleidung eines Krankenpflegers scheinbar hochkonzentriert Medikamente in einen Schrank einsortierte.

Aber Henry wusste, dass die beiden, so normal sie auch wirkten, nicht nur ihn, sondern auch den Eingang der Notaufnahme permanent im Auge hatten.

„Dr. O'Ryan, Mr Blake in der drei klagt jetzt über Kopfschmerzen und Mrs Rodriguez sagt, dass das Essen nicht schmeckt. Einer ihrer Söhne hat sich im Behandlungsraum übergeben." Erwartungsvoll blickte Amber Knight ihn an.

Henry rieb sich die Stirn und griff nach dem nächsten Krankenblatt auf dem Stapel, den er noch zu bearbeiten hatte. „Sag Mrs Rodriguez, sie kann sich gerne etwas aus der Cafeteria holen und gib einer Schwester Bescheid, dass sie sich um den Jungen kümmern soll. Was würdest du wegen Mr Blake machen?"

„Zwei Aspirin?"

„Warum hast du das nicht schon vor fünf Minuten getan?", erwiderte Henry gereizt, setzte seine Unterschrift unter ein Krankenblatt und schob es zur Seite.

Eigentlich hatte er sich an die Aufnahme gesetzt, um Jace Caradons Freundin abzufangen, aber die Arbeit an den Krankenblättern ließ ihn nicht wirken, als würde er auf jemanden warten und irgendwann musste er es ja machen.

„Ich wollte nur sicher gehen", entschuldigte Amber sich und wurde rot.

„Schon okay." Henry atmete tief durch und zwang sich ihr ein knappes Lächeln zu schenken.

Er warf einen Blick auf die Uhr. Es war bereits zehn nach neun. Was, wenn er Caradons Freundin doch verpasst hatte?

Nach einem wiederholten Blick auf den Eingang der Notaufnahme, wandte er sich wieder den Krankenblättern zu, doch bald blickte er Amber wieder an, die noch immer neben ihm stand.

„Ist noch etwas, Amber?", fragte er abwesend.

„Ja. Ich wollte noch fragen-...", setzte sie an, doch in diesem Moment hörte Henry, wie sich bei der Krankenschwester einige Meter weiter, bei der Mark noch immer stand, jemand nach Jace Caradon erkundigte.

Mit einem „Geh zu Dr. Parker", würgte er Amber ab, stand von seinem Stuhl auf und ging zu seiner Arbeitskollegin hinüber.

Die Person, die sich nach Caradon erkundigt hatte, war allerdings keine junge Frau, wie er erwartet hatte, sondern ein breitschultriger, glatzköpfiger Mann Mitte dreißig.

Henry tippte der Krankenschwester auf die Schulter. „Ich mach das schon."

Er zwang sich zu einem Lächeln, als die Krankenschwester sich mit einem verliebten Lächeln wieder Mark zuwandte.

Henry bemerkte aus dem Augenwinkel, wie sein Bruder ihm ermutigend zunickte. Ein letztes Mal atmete er tief durch und wandte sich dann an den Mann vor ihm.

„Guten Tag, ich bin Henry O'Ryan. Ich habe Jace Caradon behandelt."

Der fremde Mann lächelte, was in seinem grobschlächtigen Gesicht ein wenig fehl am Platz wirkte.

Whatever It TakesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt