60. Kapitel

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„Kate, Ryder hat gerade angerufen. Mikey und er sind jetzt auf dem Weg hierher." Lynn ließ sich neben sie auf ihr Bett fallen.

Kate zog nur stumm die Knie an und legte ihr Kinn darauf. Gestern hatte sie Mikey zum Football gucken bei den Parkers eingeladen, aber nach den Ereignissen des heutigen Tages war ihr nicht mehr nach einem sorglosen Abend mit ihren Freunden zumute.

Dabei hatten sich auch Lynn und Daniel extra frei genommen – das Spiel der Giants gegen die Jets war ein Klassiker, zumal die Geschwister selber eine Zeit lang in New York gelebt hatten.

„Kate? Ist alles in Ordnung?" Lynn stützte sich auf ihren Ellenbogen und blickte fragend zu ihr hinauf.

„Ich weiß nicht, was ich machen soll", flüsterte Kate. Noch vor zwei Monaten hätte sie nach dieser Neuigkeit Luftsprünge gemacht, aber heute...

„Hey, ihr zwei. Unten ist jetzt alles soweit fertig." Daniel lehnte sich in den Türrahmen. „Und guckt mal was ich noch gefunden habe."

Grinsend zog er eine Luftschlange hinter seinem Rücken hervor und blies sie zu den beiden Frauen aufs Bett. Er lachte fröhlich, aber heute konnte er Kate nicht mit seinem beinahe kindlichen Humor anstecken.

Aus dem Augenwinkel nahm sie wahr, wie Lynn ihrem Bruder bedeutete, dass Witze gerade nicht sonderlich angebracht waren. Sofort nahm Daniels Gesicht einen anderen Ausdruck an. „Kate? Ist etwas passiert?"

Kate blickte auf und konnte nicht verhindern, dass ihr die Tränen kamen, als sie flüsterte: „Ich bin schwanger."

„Du bist was?" Lynn richtete sich abrupt auf. „Von wem?", war sofort ihre misstrauische Frage.

„Lynn!", wies Daniel seine Schwester scharf zurecht. Er griff nach Kates Händen, zog sie auf die Beine und umarmte sie. „Herzlichen Glückwunsch, Kate."

Kate schluchzte auf. Seine Umarmung brach den Damm, den sie mühsam gegen ihre Tränen aufgebaut hatte, und ließ ihnen freien Lauf. „Was mache ich denn jetzt?", fragte sie mit erstickter Stimme.

Daniel ergriff ihre Oberarme und blickte sie ernst an. „Weiß Henry schon davon?"

Sie schüttelte den Kopf. „Ich weiß ehrlich gesagt auch gar nicht, wie und ob ich es ihm sagen soll. Er würde doch sofort denken, das Kind wäre von sonst wem!"

Allein der Gedanke daran stach ihr ins Herz und trieb ihr noch mehr Tränen in die Augen.

„Okay. Das ist okay, Kate. Dann sagen wir es ihm erst mal nicht." Daniel nickte und als er sie erneut umarmte, strich er ihr in beruhigenden Bewegungen über den Rücken.

„Wie weit bist du?", fragte Lynn schließlich in die Stille hinein. Es klang wie eine Entschuldigung für ihre vorherige, barsche Frage und Kate nahm sie gerne an. Sie brauchte ihre Freundin mehr denn je.

„Zehnte Woche", flüsterte sie.

„Zehnte Woche? Und das sagst du uns erst jetzt?"

„Ich weiß es doch selbst erst seit zwei Stunden. Ich war vorhin bei meiner Gynäkologin."

„Du hast nichts gemerkt?", fragte Lynn skeptisch.

Kate zuckte die Achseln. „Vor Henrys Unfall dachte ich schon mal, ich wäre schwanger, aber dann schien es doch nicht so zu sein. Meine Ärztin hat mir heute erklärt, dass eine Blutung in der Frühschwangerschaft bei zwanzig Prozent der Frauen auftritt und anscheinend gar nicht so ungewöhnlich ist." Kate wischte sich die Tränen von den Wangen. „Ich dachte einfach nur, mein Zyklus wäre durcheinander, wegen des ganzen Stress', der Sorgen und der Angst, die ich um Henry nach seinem Unfall hatte und dann habe ich nicht weiter daran gedacht."

Noch vor zwei Monaten hatte sie sich nichts so sehr gewünscht, wie ein Kind zu bekommen, aber jetzt? Wie sollte sie das alleine schaffen?

„Ich will nicht, dass mein Kind ohne Vater aufwächst", sprach sie leise das aus, was sie, seit sie von ihrer Schwangerschaft wusste, beschäftigte.

„Das wird es nicht, Kate, versprochen. Wir werden Henry nicht einfach aufgeben. Nicht kampflos!", erwiderte Lynn bestimmt und Daniel nickte bekräftigend. „Wir werden dir helfen, Kate. Du bist damit nicht alleine!", murmelte Lynn, als auch sie Kate umarmte.

„Okay." Kates Unterlippe zitterte, als sie versuchte, dem erneuten Ansturm an Tränen Stand zu halten. „Danke."

Ihre Freundin legte einen Arm um sie und lächelte aufmunternd. „Mikey und Ryder kommen leider in zwei Minuten, aber ich verspreche dir, dass ich heute Abend nicht schlafen gehen werde, ehe du mir nicht jedes kleine Detail verraten hast." Lynn zwinkerte ihr zu.

Kate lächelte tapfer. Sie weinte und lachte gleichzeitig, als ihre Freundin sie stürmisch umarmte.

„Das ist doch fantastisch! Wir werden in den nächsten Wochen zusammen süße Kleider und Hüte einkaufen gehen. Oh, und Schnuller, Strampler, Baby-Brei..."

„Das wird eine lange Liste", bemerkte Daniel trocken und in diesem Moment klingelte es auch schon an der Tür.

„Bist du bereit?", fragte Lynn und blickte ihr fragend in die Augen.

Kate nickte und überprüfte schnell im Spiegel an ihrem Kleiderschrank, ob ihre Wimperntusche die Überflutung durch ihre Tränen ausgehalten hatte. „Ja."

„Na dann, auf ins Chaos", grinste Daniel. Sie gingen gemeinsam in den Flur und er öffnete die Tür für den vor Aufregung ganz hibbeligen Mikey und einen von der Menge an Energie bereits genervten Ryder.

„Es riecht nach Popcorn!", jubelte der Junge statt einer Begrüßung und schlang seine dünnen Arme um Kate. „Ich verspreche Ihnen, ich passe gut auf mich auf, Doc! Und im Zweifel habe ich ja mehr als genug Ärzte um mich herum." Er grinste.

Lachend zerstrubbelte Kate ihm die Haare. Dem Jungen gelang es jedes Mal, sie aufzuheitern, auch wenn sie so wie jetzt noch vor wenigen Minuten geweint hatte.

Mikey wusste, dass sie sich trotz allem Sorgen um ihn machte – vor allem jetzt, wo sein Vater im Gefängnis saß und er in der Zeit, in der er nicht medikamentiert wurde, im Nachbarort bei seiner Großmutter wohnte.

Deswegen hatten Ryder und sie beschlossen, dass jeder von ihnen in seinen Therapiewochen abwechselnd an einem Wochenende etwas mit ihm unternehmen würde.

Kate konnte sich gar nicht vorstellen, wie furchtbar es sein musste, in dem Alter ohne die eigenen Eltern und mit einer schweren Krankheit im Krankenhaus zu liegen und dort Feiertage wie Weihnachten verbringen zu müssen.

Wobei sie glaubte, dass sie in nächster Zeit einiges auf diesem Gebiet würde lernen müssen, so sehr sie sich auch dagegen sträubte. Denn sie wusste immer noch nicht, wie sie Henry morgen begegnen würde – vorausgesetzt, dass er zu der Weihnachtsfeier seiner Familie kommen würde.

Vielleicht hielt ihn ja auch der Gedanke, sie zu sehen, davon ab, dachte Kate bitter.

Womit hatte sie das verdient?

Whatever It TakesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt