96. Kapitel

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Bleibt bitte im Zimmer, hatte Mark gesagt. Kate verdrehte die Augen. Ein Super-Ratschlag, wirklich! Was genau sollten sie den ganzen Tag über bis zum Abendessen machen?

Sie hatten nichts mit, was in irgendeiner Form Ablenkung geschaffen hätte. Ihre Handys hatten sie an Mark und Josh abgeben müssen und selbst wenn nicht, hätten die Geräte mittlerweile wahrscheinlich trotzdem kaum noch Akku. Aber vielleicht hätte es ja für ein Telefonat mit Charlotte gereicht, oder um sich bei Ryder zu erkundigen, wie es Mikey ging.

Hier im Hotelzimmer gab es zwar ein Regal, in dem einige Bücher standen, doch die wenigsten davon klangen interessant. Ansonsten gab es noch ein normales Kartendeck und ein Schachspiel, aber sie würde ganz bestimmt nichts mit Henry spielen und so tun als wäre alles in Ordnung!

Wie sollte sie in Ruhe über das nachdenken, was er gesagt hatte, wenn sie die ganze Zeit das Gefühl hatte, dass er sie beobachtete? Sie wusste, dass er ihr höchstens ab und zu einen Blick zuwarf, wenn sie laut aufstöhnte, weil der Humor in dem Roman, den sie begonnen hatte zu lesen, einfach zu platt war oder wenn sie sich eine neue Sitzposition suchte, aber nichtsdestotrotz hatte sie das Gefühl, in seiner Gegenwart nicht ungestört über ihn nachdenken zu können. Also schob sie es mal wieder auf, so wie sie es die letzten Tage schon gemacht hatte.

Auf der anderen Seite war sie sich nicht sicher, warum sie überhaupt nachdenken wollte, wenn sie am liebsten zu Henry rennen und sich in seine Arme werfen wollte. So hätte sie es als Kind gemacht, also warum musste alles so viel komplizierter sein, wenn man erwachsen war?

Sie war verletzt, aber wütend war sie kaum noch. Stattdessen musste sie ständig daran denken, was mit Spence passiert war und dass eigentlich sie diejenige war, die um Vergebung zu bitten hatte. Konnte sie nicht einfach bitte einschlafen und erst wieder aufwachen, wenn alles wieder so war, bevor Lary Hoover als Kriminelle, und Marks ISASP-Fall in ihr Leben getreten waren?

Warum war es unmöglich, vergangenes zu vergessen?

Kate warf einen Blick zu Henry, der in dem anderen der zwei Sessel saß, die es in diesem Zimmer gab und ebenfalls in einem Buch las. Ihr Brustkorb zog sich zusammen, als sie daran dachte, dass sie in Wirklichkeit so viel mehr trennte als nur das breite Doppelbett, das jetzt zwischen ihnen stand. Es waren so viele Lügen, Unausgesprochenes, Halbwahrheiten. Und auf der anderen Seite hatten sie einander Verletzungen zugefügt, wie sie es sich niemals hätte vorstellen können. Sie hatte als verheiratete Frau einen anderen Mann geküsst und war mit ihm auf einem Date gewesen!

Da half keine Ausrede, dass sie total verwirrt und von Hormonen und Gefühlen geleitet gewesen war, es war falsch gewesen!

Und genau das war es, was sie in Frage stellen ließ, ob die Ehe mit Henry wirklich noch richtig für sie war. Sie hatte nie vorgehabt, das aufzugeben, was sie gehabt hatten, aber gab es wirklich ein Zurück?

Und wenn sie sich entschied, Henry zu verlassen oder er es doch nicht mehr mit ihr aushalten sollte, was würde dann aus ihrem Kind werden? Sie war erst 26 Jahre alt, sie fühlte sich nicht bereit, alleine ein Kind zu erziehen!

Ihre Familie würde ihr bestimmt dabei helfen, aber Charlotte hatte ihre eigene Familie und bei Lacey würde es bestimmt auch nicht mehr lange dauern, bis sie heiratete und ebenfalls Kinder bekam. Und über Harvey und Neela wäre sie noch immer mit den O'Ryans verbunden und würde sie bei den ganzen Familienfeiern sehen, selbst wenn Henry aus Rücksicht auf sie nicht kommen würde. Aus Rücksicht? Wohl kaum. Er war schon weniger Familienmensch gewesen als sie und große Feiern, zu denen alle möglichen Verwandten kamen, hatte er noch nie gemocht. Sie wäre also eine gute Ausrede für ihn, zu solchen Treffen in Zukunft nicht mehr zu kommen.

Kate biss sich auf die Lippe. Vermutlich würde sie das alles hinbekommen, mit Unterstützung ihrer Familie und Freunde, nachdem die es erst mal akzeptiert hätten. Das würde allerdings seine Zeit dauern und vermutlich war es gar nicht so unwahrscheinlich, dass Henry und sie mit ihrem Streit die ganze Familie in zwei gegnerische Lager spalteten.

Und außerdem – sie hatte Henry versprochen, auch in schlechten Zeiten für ihn da zu sein und zu ihm zu halten, egal, was kam. Wie hatten sie diese Versprechen so schnell vergessen? War ihre Ehe von Anfang an zum Scheitern verurteilt gewesen?

Nein.

Ein bitteres Lächeln legte sich um ihren Mund, als sie an die zahlreichen Stunden dachte, die Henry und sie gemeinsam verbracht hatten. Er hatte ihr gesagt, dass er ihr unzählige schöne Erinnerungen schaffen wollte, die alle schlechten Erinnerungen überdecken und aus ihren Gedanken vertreiben könnten, als er ihr den Antrag gemacht hatte. Und jetzt war er derjenige gewesen, der ihr noch mehr schlechte Erinnerungen geschrieben hatte.

Sie schloss die Augen, um ihre Tränen daran zu hindern, sich durch Blinzeln aus ihren Augenwinkel zu lösen. Sie hatte lange nach guten Gründen gesucht, warum es gut sein würde, dass Henry sie verließ und jetzt, wo er ihr indirekt gesagt hatte, dass er das nicht tun würde, prasselten diese Argumente auf sie ein und unterdrückten jede Erleichterung im Keim. Es war als würde sie nur noch die positiven Aspekte einer Trennung sehen können.

Aber eigentlich war alles, was sie mit diesem stummen, inneren Streit erreichte, dass ihr Herz immer weiter hinter der Mauer verschwand, die sie errichtet hatte. Sie ließ nicht mehr zu, dass ihr Herz sprach, sondern wollte alles mit dem Verstand klären. Denn sie wusste genau, ihr Herz würde sie wieder zurück zu Henry führen.

Die Frage war nur, ob das ihr Untergang wäre oder doch eine Chance auf einen Neuanfang bestand.

Whatever It TakesWhere stories live. Discover now