39. Kapitel

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Henry drückte einige Schmerztabletten aus dem Blister, schluckte sie hinunter und spülte mit etwas Wasser nach.

„Kate, kommst du?", rief er die Treppe hinauf.

Amber und er warteten bereits seit einigen Minuten im Flur auf Kate, die noch in ihrem Zimmer im ersten Stock war. „Bin gleich unten!", rief sie in dem Moment zurück.

Henry griff nach seinen Krücken, mit denen er mittlerweile umging, als wäre er nie anders gelaufen, und humpelte zur Tür. In den letzten zwei Wochen hatte er gesundheitlich große Fortschritte gemacht, von denen sogar seine Physiotherapeutin überrascht gewesen war.

Heute war bereits Henrys fünfter Arbeitstag im Klinikum.

Zwar arbeitete er nur halbtags und durfte weder Nachtschichten noch Notfallpatienten übernehmen, bis er sich wieder ganz normal, ohne Krücken, bewegen konnte, aber es war trotzdem ein so viel besseres Gefühl, wieder nützlich zu sein zu können. Zumal die neue Prognose vollständige Genesung ohne bleibende Schäden lautete.

Mit Ausnahme der Narben würde bald nichts mehr daran erinnern, dass er einmal so schwer verletzt gewesen war.

Noch humpelte er, sodass er die Krücken wirklich brauchte, aber auch das würde bald vergehen.

„Wir können." Kate kam die Treppe hinunter.

Ihre frisch gewaschenen Haare fielen ihr in leichten Locken über ihre Schultern, als sie sich auf die Zehenspitzen stellte und ihm einen flüchtigen Kuss auf die Wange gab, bevor sie nach ihrem Schlüsselbund, ihrer Tasche und ihrer Jacke griff und sie gemeinsam das Haus verließen.

* * * * *

„Denk dran dir von Lynn wieder neue Schmerztabletten verschreiben zu lassen", erinnerte Kate ihn, als sie sich am Fahrstuhl von einander verabschiedeten.

„Mhm", machte Henry und küsste Kate sanft.

„Henry", protestierte Kate, doch das Leuchten ihrer Augen verriet sie.

Sie genoss es, wieder im Mittelpunkt seiner Aufmerksamkeit zu stehen, das bemerkte er wohl - und nutzte es gnadenlos aus, indem er sie erneut küsste.

Es war noch nicht wieder alles gut zwischen ihnen, das wusste Henry. Sie stritten sich noch immer um einiges häufiger als früher, aber in Momenten wie diesem machte Kate es ihm leicht, das zu vergessen.

„Mein Dienst fängt an", flüsterte sie, als sie sich von ihm löste. „Du redest mit Lynn?"

„Ja." Henry nickte. Da Lynn ihn zusammen mit Dr. Stanley behandelt hatte, hatte sie auch die Nachsorge für ihn übernommen.

„Mach es am besten jetzt gleich, sonst vergisst du es wieder." Kate zwickte ihn in die Seite und verschwand im Fahrstuhl bevor er sich rächen konnte. Belustigt verdrehte er die Augen. Manchmal benahm sie sich trotz allem noch wie ein Kind - eines der vielen Dinge, die er an ihr so liebte.

Henry ging ins Ärztezimmer, um seine Sachen abzustellen und sich umzuziehen und fand dort Lynn und Laryssa vor.

Er versuchte, möglichst unbeteiligt wirkend an den beiden vorbei zu seinem Schließfach zu gelangen. Seine Kolleginnen hatten sich Kaffee gemacht und saßen jetzt plaudernd an dem kleinen Tisch in der Mitte des Raumes.

„Guten Morgen, Henry."

„Morgen", brummte er unwillig und ohne sich zu ihnen umzudrehen.

Während er seine Sachen verstaute, redeten Lynn und Lary leise weiter. Als ein Pager zu piepen begann, stand Lary auf, griff nach ihrer Kaffeetasse und verließ das Zimmer.

„Ist alles in Ordnung, Henry? Wie geht es dir?" Lynn stand auf und kam zu ihm.

„Ganz gut." Betont unbeteiligt wandte er sich zu ihr um. „Kannst du mir neue Schmerztabletten verschreiben? Ich hab sie fast aufgebraucht."

„Schon?" Lynn hob erstaunt eine Augenbraue. „Hast du begonnen, die Dosis zu reduzieren?"

Henry runzelte die Stirn. „Natürlich. Was denkst du denn?"

Lynns Blick konnte er nicht deuten.

Oder er wollte es nicht.

Oder beides.

„Ich werde dir die Hälfte verschreiben. Damit müsstest du den nächsten Monat auskommen, wenn du wirklich begonnen hast, das Codein auszuschleichen."

„Habe ich", beharrte Henry und merkte, wie er missmutig wurde.

Etwas lauter als beabsichtigt schlug er die Tür hinter sich zu, als er das Ärztezimmer verließ und geradewegs zu den Männertoiletten lief.

Aus der Tasche seines Arztkittels holte er seine restlichen Schmerztabletten hervor.

Normalerweise wurde Codein eher selten als Schmerzmittel verschrieben, aber da Henry einige Allergien hatte, war dies Dr. Stanleys erste Wahl bei Henrys Behandlung gewesen.

Dass seine Tabletten fast alle waren, war gut - er würde mit den wenigen, die er noch hatte, vielleicht noch bis morgen Mittag auskommen.

Aus Routine nahm er eine der Tabletten ein und spülte mit Leitungswasser hinterher.

Langsam richtete er sich auf und starrte sein Spiegelbild über dem Waschbecken an. Ob Lynn recht hatte? Nahm er wirklich zu viele Medikamente, wie sie ihm indirekt vorgeworfen hatte?

Ja, er nahm noch ungefähr die gleiche Menge wie zu Beginn. Das war doch okay, solange er jetzt begänne, das Codein auszuschleichen, oder?

Andererseits hatte er immer noch zu starke Schmerzen, als dass eine reduzierte Dosis reichen würde.

Die Menge der Tabletten, die er nahm, war gerechtfertigt und noch immer im grünen Bereich.

Na ja.

Meistens zumindest.

Whatever It TakesWhere stories live. Discover now