62. Kapitel

65 12 11
                                    

"Also,willst du jetzt in die Geheimnisse des großen Meisters eingeweiht werden?"

Henry zögerte. "Ja."

"Sehr gut. Ich wusste du würdest die richtige Entscheidung treffen, mein Freund."

Henry zog eine Grimasse, die Ash unkommentiert überging.

"Also, fangen wir an mit Regel Nummer eins: Erst das Geld, dann der Stoff. Die meisten werden versuchen, dich übers Ohr zu ziehen, also lass dich gar nicht erst auf Diskussionen über den Preis ein. Du weißt, wie teuer es ist und du hast das Recht, in Absprache mit mir auch ein bisschen höher zu gehen. Sie sind diejenigen, die etwas brauchen, nicht du. Zumindest wirst du so tun, als wäre es so. Mach die Kunden von dir abhängig und sie werden dir aus der Hand fressen und alles tun, was du sagst."

Ein Lächeln zog über Ashs Gesicht. "Aller Anfang ist schwer, aber das schaffst du schon. Irgendwann ist immer das erste Mal und warum nicht jetzt mit etwas anfangen, was du später womöglich hauptberuflich machst?"

"Ich werde meine Arbeit im Krankenhaus nicht für so etwas aufgeben."

"Wer sagt denn, dass du etwas aufgibst? Bei den meisten Menschen in deiner Situation ist es eher andersrum, nämlich dass die Arbeit *sie* aufgibt. Das läuft fast immer gleich ab, aber lass dich davon nicht irritieren, das wird schon. Im Zweifel gibt es ja vier von uns die du schon kennst und die dir den Einstieg erleichtern können."

Vier?

"Also, kommen wir zu Regel Nummer zwei: Nichts sagen, nichts fragen, nur verkaufen. Längere Konversationen sind schädlich fürs Geschäft. Sobald du emotionale Bindungen aufzubauen beginnst, läuft etwas ganz gewaltig schief. Bewahre immer das professionelle Verhältnis zwischen Kunde und Verkäufer, so kannst du nachts am ehesten ruhig einschlafen. Die meisten haben zu Beginn ein schlechtes Gewissen, aber das legt sich mit der Zeit. Du darfst das alles nicht zu nah an dich heran lassen."

Gut, darin hatte er sich in letzter Zeit sowieso geübt. Er hatte manchmal das Gefühl, nur noch ein Schatten seiner selbst zu sein und Emotionen nur noch als Fremdwort zu kennen, das keinerlei Relevanz in seinem Leben hatte.

Er hatte begonnen, eine Maske aufzusetzen, die seine Sucht verschleierte und auch ihm selbst half, darüber hinweg zu sehen. Und vor allem hielt er so Kate auf einem angemessenen Abstand.

Er wollte nicht, dass sie ihn so sah.

"Soweit alles klar?"

Henry nickte. "Ja."

"Sehr gut. Ich denke, es ist selbstverständlich, dass du niemandem deinen Namen sagst oder sonst etwas über dich verrätst. In der Gegend, für die du zuständig sein wirst, werde ich bekannt sein, weil ich dort aufgewachsen bin. Sollte dir also jemand blöd kommen, gib das an mich weiter, dann sorge ich dafür, dass sie sich beruhigen. Neue Verkäufer sind nie wirklich beliebt."

Henry fiel auf, dass Ash immer Verkäufer statt Dealer sagte. Ein Euphemismus also, der das alles beschönigen sollte.

"Ich werde dir eine Liste mit den Hausnummern der Menschen geben, die bereits Kunden sind. Aber deine Aufgabe ist es natürlich auch, neue Käufer dazuzugewinnen, sobald du dich ein wenig eingewöhnt hast. Generell ist die Weihnachtszeit optimal fürs Geschäft. Menschen werden sentimentaler, emotionaler und alles in allem weicher. Wenn jemand alleine ist, trifft ihn das noch mehr als sonst. Kurzum, die Menschen kaufen mehr in dieser Zeit, also nutz das aus."

"Ich soll vor Weihnachten schon anfangen? Das sind nur noch zwei Tage."

"Mir ist egal, wann du anfängst, so wie mir auch egal ist, wann du arbeitest oder im Prinzip auch, an wen du verkaufst. Hauptsache ist, dass du in den nächsten zwei Wochen das hier los wirst." Ash schob mit dem Fuß einen Rucksack zu ihm herüber.

"Das scheint ganz schön viel zu sein", antwortete Henry zögerlich.

Ash winkte ab. "Das wirkt nur so. Du wirst merken, dass die meisten meinen, auf Vorrat zu kaufen, dann aber doch jedes Mal neu zuschlagen. Von denen, die auf der Liste stehen, wird niemand ein paar kleine Tütchen zurückweisen. Die Menge ist für zwei Wochen sogar noch recht wenig, dafür wirst du drei-, maximal viermal rausgehen müssen."

"Die Häuser sind mitunter ganz schön weit auseinander", überlegte Henry, als er einen Blick auf die Liste warf, die Ash ihm reichte. "Ist das in zwei Stunden überhaupt zu schaffen? Viel länger Zeit werde ich an den meisten Tagen nciht haben, meine Frau kennt meine Arbeitszeiten und wir haben oft gleichzeitig Schluss, ich kann nicht oft lange weg sein, ohne dass sie misstrauisch wird."

"Dann musst du eben an unterschiedlichen Tagen gehen." Ash verdrehte die Augen und warf dann einen ungeduldigen Blick auf die Uhr. "Hast du sonst noch Fragen?"

Henry überlegte kurz. "Wie erreiche ich dich, wenn ich alles losgeworden bin?"

Ash verzog verächtlich das Gesicht. "Gar nicht. Du hast zwei Wochen Zeit. Wenn du länger brauchst, bekommst du weniger von deinen Einnahmen. Den Preis den du verlangst werden wir überprüfen, da du auch an uns verkaufen wirst, allerdings wirst du nicht wissen, wer von deinen Kunden zu uns gehört, und wer nicht. Außerdem wirst du wissen, dass wir deine Frau und dich überwachen lassen, sollte also irgendwas Dringendes sein, werden wir das mitbekommen, ohne dass du irgendwie versuchen musst, uns zu erreichen."

Henry biss die Zähne zusammen. Er hasste es, dass sie Kate in all das hineinzogen! Aber er verstand, dass es notwendig war, um ihn in der Hand zu haben. "Ist sonst noch irgendwas?"

"Ein letzter Tipp: Geh niemals in die Häuser hinein. Du weißt nie, was damit bezweckt wird, wenn dich jemand einlädt oder ob du unversehrt wieder heraus kommst."

Henry lief eine Gänsehaut über den Rücken. Er erhob sich und schulterte den Rucksack.

"Also in zwei Wochen um die gleiche Uhrzeit am gleichen Ort?", fragte er kühl, während in ihm die verschiedensten Emotionen kochten, die er gedacht hatte, bereits nicht mehr zu kennen.

"Ich gebe dir Bescheid, sollte sich etwas daran ändern", nickte Ash und stand ebenfalls auf. "Willkommen im Team, Henry. Du wirst es nicht bereuen, glaub mir."

Daran hatte er so seine Zweifel. Dennoch schlug er in Ashs Hand ein, die dieser ihm zu Abschied entgegenhielt. Dann gingen sie beide in unterschiedlichen Richtungen davon.

Mit jedem Schritt, den er sich von der Bank entfernte, fragte Henry sich einmal mehr, ob er wirklich die richtige Entscheidung getroffen hatte. Aber jedes Mal kam er zu dem gleichen Schluss: Im Prinzip hatte er keine Wahl gehabt.

Whatever It TakesWhere stories live. Discover now