270. Sinn des Lebens

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Seren betrat das Innere des Gebäudes, griff in ihre Hosentasche, holte ein Feuerzeug hervor und entzündete mit dessen Hilfe eine der Fackeln, die an den Wänden befestigt waren, welche sie anschließend aus der Halterung nahm. Mit eiligen Schritten ging sie weiter nach drinnen und schon bald erreichte sie kein Tageslicht mehr. Die Luft wurde zunehmend stickiger, umso weiter sie kam. Der Boden war von Staub bedeckt und dämpfte die Geräusche ihrer Schritte. Sie kam an eine Treppe, die nach unten führte und trat beherzt auf die erste Stufe. Ihr blieb nur zu hoffen, dass es keinerlei Zwischenfälle geben würde und sie problemlos weiter voran kam. Aufgrund der schlechten Sichtverhältnisse konnte sie auch nicht kopflos losrennen, war die Gefahr von möglichen verborgenen Fallen doch nicht von der Hand zu weisen.

Nach einer gefühlten Ewigkeit erreichte sie einen Raum, in dem sich zahllose steinerne Regale befanden, die bis an die Decke reichten und mit aberhunderten Büchern gefüllt waren. Das musste Wissen sein, was über unfassbar viele Jahre zusammengetragen worden war und unschätzbaren Wert besaß. "Das One Piece.", murmelte sie nachdenklich vor sich hin und setzte ihren Weg fort. Eine andere Erklärung, für diese wahrlich außergewöhnlich bestückte Bibliothek, fiel ihr beim besten Willen nicht ein. Sie ging bis zu der Wand, die sich dem Eingang gegenüber befand und runzelte die Stirn. Scheinbar war sie am Ende angelangt, aber hier war doch nichts weiter. Wo sollte also diese Frucht sein, die sie so dringend brauchte? Mit prüfendem Blick begann sie, die Regale abzusuchen und las dabei einige Titel, die sie tatsächlich entziffern konnte. Themengebiettechnisch befand sie sich wohl gerade im philosophischen Bereich, wenn man die Schmöker 'Der Sinn des Lebens', 'Was kommt danach?' und 'Deine Gefühle und du' so betrachtete. Ihre Rechte glitt über die Rücken der Einbände und sie dachte nach. Wenn sie ihre Mutter wäre, was hätte sie dann getan, um in diesem Raum etwas zu verstecken? Außer den zahllosen Wälzern war beim besten Willen nichts zu entdecken.

Zum gefühlten hundertsten Mal war sie die Wände abgelaufen und noch immer hatte sie nichts gefunden. Schwer seufzte die Piratin und fuhr sich mit einer verzweifelten Geste über das Gesicht. Mittlerweile hatte sie sämtliche Fackeln entzündet, die aufzufinden waren, was der ohnehin stickigen Luft nicht gerade zugute kam, aber sie hoffte, dadurch eher fündig zu werden, leider offensichtlich vergebene Liebesmüh. Seren blieb stehen und atmete durch. Es war zum Haare raufen. Ihr grübelnder Blick schweifte über eine der schmalen, steinernen Säulen, welche die einzelnen Regale voneinander abgrenzten und von ungewöhnlichen Verzierungen übersät waren. Mit der Linken fuhr sie die Vertiefungen nach und versank in Gedanken. Noch immer versuchte sie in ihren Erinnerungen einen Hinweis auszugraben, um endlich weiter zu kommen.

Flashback

Es war ein sonniger Tag und das blonde Mädchen saß auf einer Bank im Garten. Ihre Beine baumelten ohne einen ersichtlichen Takt vor und zurück, während ihre Augen die Weiten des Himmels erkundeten. Schon damals, als sie gerade neun war, hatte sie stets den Vergleich zwischen Himmel und Freiheit gezogen und sobald sie es das erste Mal erlebte, hatte sich das Meer dort mit eingereiht. Sie war traurig, dass sie wohl nie erleben würde, was dieses große Wort wahrhaftig bedeutet. "Freiheit.", murmelte sie bedrückt. "Seren, was machst du denn hier draußen?", kam Amanda zu ihr. "Ist das jetzt auch schon verboten?", verschränkte sie bockig die Arme. "Natürlich nicht.", seufzte die Frau und setzte sich. "Dein Hauslehrer meinte, dass ihr eine sehr angeregte Konversation über das Leben hattet.", versuchte sie ein normales Gespräch zu beginnen, lag das letzte doch schon Wochen zurück. Sie wusste, dass es mit fortschreitendem Alter ihrer Tochter immer schwieriger werden würde, sie zu isolieren und von der Außenwelt fern zu halten. Wie bald sich ihre schlimmsten Befürchtungen bewahrheiten sollten, ahnte sie zu dem Zeitpunkt noch nicht.

"Ich bin mir nicht sicher, ob diese Bezeichnung sonderlich treffen ist.", meinte sie abweisend. "Hast du weiter über das Thema nachgedacht?", wollte die Ältere wissen. "Wozu? Es ist doch lediglich eine Frage, mit welcher Erklärung man sich eher abfinden kann. Entweder es gibt ein danach oder eben nicht. Ist sowas wirklich von Belang? Sollte es mich in meinem Alter schon interessieren, ob am Tage meines Todes alles endet oder es weitergeht? Klar, wäre die zweite Variante schon schöner. Aber was soll denn dann kommen? Man ist tot und getrennt von allem und jedem. Fakt ist, dass mit dem Leben sowohl Liebe als auch Hass enden, denn sie werden einem ab da egal, denke ich zumindest.", tat sie nachdenklich ihre Meinung kund. "Aber das war doch gar nicht die ursprüngliche Fragestellung.", meinte ihre Mutter dann. "Ja, na und?", zuckte das Mädchen patzig die Schultern. Sie durfte kaum etwas entscheiden oder tun, da war es ihr dann herzlich egal, über was ihr Lehrer so philosophieren wollte. Woher sollte sie fundiertes Wissen haben, um zu solch komplizierten Themen etwas beizutragen? Das war schlicht und ergreifend ein Ding der Unmöglichkeit in ihren Augen. "Willst du hören, was ich darüber denke?", kam es versöhnlich von der Frau. "Von mir aus.", lehnte Seren sich gleichgültig zurück, hob ihre Füße auf die Bank und begab sich in den Schneidersitz.

"Es gibt keine allgemeingültige Antwort, denn jeder Mensch ist anders und so auch jedes Leben. Folglich, muss das jeder für sich selbst herausbekommen. Die meisten Menschen erfasst die Erleuchtung erst in dem Moment, wo sie im Sterben liegen. Selbst ich weiß es für mich noch nicht.", erklärte sie in aller Ruhe. Frustriert stieß ihre Tochter Luft aus. "Und dann wird von einem Kind eine sinnige Aussage erwartet.", verzog sie das Gesicht angespannt. "Es tut dir gut, über komplizierte Dinge nachzudenken und dich damit zu beschäftigen.", lächelte sie versonnen. Immerhin hatte sie so nicht allzuviel Zeit, sich ihren Kopf darüber zu zerbrechen, was sie in der Welt verpasste. "Aber es ist doch sinnlos, wenn ich zu keiner Lösung kommen kann.", hielt das Mädchen dagegen. "Das ist nunmal so in der Philosophie.", gab Amanda zu. "Ganz toll.", verdrehte sie demonstrativ die Augen. "Es wird der Tag kommen, an dem du ihn erkennst, deinen Sinn des Lebens.", lächelte sie ihre Tochter nochmal an, bevor sie die Kleine alleine ließ und sich in die Villa zurück zog. Ernüchtert hob Seren den Kopf wieder gen Himmel und beobachtete, wie die Schäfchenwolken vorbei zogen.

Flamme der Freiheit Teil 2 🗸Where stories live. Discover now