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Julian Pov.

Mitbetreuung. Das ist es, womit ich die nächsten neunzig Minuten verbringen würde.

Lewis. Ein unausstehlicher Name, mit nicht ganz so unausstehlichem Gesicht, ist es, was ich zeichnen sollte.

Ich rümpfte die Nase und wandte mich zu Louis, der neben Ben stand.

"Wollen wir nicht tauschen?", bat ich ihn mit Hundeaugen und auf seinen besten Freund deutend.

Wir wurden für Portrait-Arbeit in Zweiergruppen eingeteilt, wobei Jess irgendwie bei Louis und ich irgendwie bei Ben gelandet war. Lieber wäre ich mit Jess in einer Gruppe.

Doch Louis musste mir diese Hoffnungen zerplatzen lassen, indem er den Kopf schüttelte.

"Wir können nicht einfach tauschen, du kennst Mrs. Lee doch. Die dreht uns Vieren dann den Kopf um", rechtfertigte er seine Entscheidung, ehe er meiner besten Freundin einen kleinen Schubs gab und beide schnell verschwunden waren.

Mann!

"Ich dachte wir hätten den Ich-hasse-diese-Person-so-sehr-dass-ich-nichtmal-mit-ihr-sprechen-kann-Part hinter uns. Was ist dein Problem, Adams?", wollte Ben von mir mit hochgezogener Augenbraue wissen. Dabei blickte er mich nur aus dem Augenwinkel an, da er mittlerweile neben mir stand und sich anscheinend nicht die Mühe machen wollte, seinen ganzen Kopf zu bewegen.

Ein Grummeln entflüchtete meinen Lippen.

"Der Ich-hab-aber-grundsätzlich-was-gegen-dich-Part ist aber noch lang nicht überwunden. Das ist mein Problem, Lewis", äffte ich ihn nach. Auf eine weitere Antwort wartete ich auch nicht. Stattdessen griff ich nach meinem Rucksack, den ich zu Unterrichtsbeginn unachtsam auf den Boden geworfen hatte, und machte mich auf den Weg in den Flur.

Sobald ich der Meinung war, ein ruhiges Plätzchen – wie es unser Vertretungslehrer an Mrs. Lees Stelle ausgedrückt hatte – gefunden zu haben, drehte ich mich um, nur um sicherzustellen, dass der Ältere mir gefolgt war. Stumm nickte ich zur Bibliothek, worauf Ben bloß ein Nicken erwiderte. Wir beide traten hinein und versteckten uns zwischen den Buchreihen, zwischen denen sich eine kleine Leseecke befand. Ruhe war hier angesagt. Das hieß, ich musste keine unnötigen Wörter mit dem Jungen, welcher gerade vor mir Platz nahm, wechseln. Lewis hatte sich in eine Art Sessel gesetzt, wohingegen ich mich in einen Sitzsack fallen lassen hatte, der ziemlich flauschig und generell gemütlich aussah. Natürlich machte ich mir zunächst keine Gedanken darüber, wie ich ohne Hilfe wieder aus diesem treibsandähnlichen Ding herauskommen sollte.

Ich zückte Stift und meinen Block, sodass ich demnächst damit beginnen konnte, Bens Profil zu zeichnen. Doch Ben hatte anscheinend eine andere Idee, denn anstatt zur Seite zu schauen wie ausgemacht, blickte er mir starr in die Augen und legte seine eigenen Materialien zur Seite.

"Was hattest du heute Morgen am Notausgang zu suchen?", forderte der Junge mit einem fast schon durchdringlichen Blick zu wissen. Ertappt zog ich die Luft ein und klammerte mich aus Reflex fester an meinen Block. Er hatte mich gesehen? Wie?!

Und bevor ich weiter darüber nachdenken konnte, schaltete mein Gehirn auf Abwehrmodus und sprach das aus, was es im Imbegriff war zu denken.

"Stalkst du mich, Junge?!", fragte ich ihn empört und starrte ihn nun mindestens genauso störrisch an. Konnte doch wohl nicht sein, dass er immer alles um mich herum und mich betreffend mitbekam! Tatsächlich wäre ich unter normalen Umständen in diesem Moment aufgesprungen, doch ließ meine Sitzmöglichkeit dies nicht zu. Glücklicherweise hatte ich das noch rechtzeitig bemerkt, anstatt mich wie ein Idiot bloßzustellen und beim Versuch bedrohlich zu wirken, sofort wieder in den flauschigen Sitzsack hineinzusinken.

"Chill mal. Ich hab da morgens Unterricht und so verdächtig wie du dich aufgeführt hast, bemerkt dich doch schon fast ein Blinder", behauptete er abwehrend, "Also, was hat das zu bedeuten?"

Genervt schnalzte ich mit der Zunge.

"Das kann dir doch egal sein. Ich fass es nicht, dass ich dir genau diesen Satz gefühlt jeden Tag an den Kopf werfen muss. Es geht dich nichts an, ob ich in Schwierigkeiten stecke, ob ich in einer Beziehung bin oder ob ich Drogen nehme oder–", schnell unterbrach ich mich selbst und lenkte meine Aufmerksamkeit weg von Ben, hin zu irgendeinem Regal. Wieso bin ich so ein Plappermaul?!

"Rein hypothetisch Drogen nehme oder sonst was tue, mein ich", korrigierte ich mich schnell und hoffte der Fehler würde mir verziehen werden. Fast wär mir noch mehr rausgerutscht, fast hätte ich gesagt, dass ich tatsächlich zur Schlampe werde und mich kaum mehr als Entertainer bezeichnen kann. Verdammt, wieso redest du so viel, Ian?

Nach einiger Zeit der Stille, traute ich mich es wieder hinauf in Bens Augen zu schauen und seinen Blick zu deuten. Schock? Unglaubwürdigkeit? Was war es?

Beides. Doch auch beides wandelte sich sofort in etwas Böseres um.

Wie auf Kommando sprang Ben alamiert auf, als er meinen unsicheren und nervösen Blick bemerkte, und griff nach meinem Kragen, an dem er mich hochzog und aus der Bibliothek zerrte. Er zerrte mich immer weiter den Flur entlang, bis er die Toilettentür aufschlug und mich ziemlich grob hineinstoß.

Tief holte der Junge Luft.

"Bist du verrückt?! Du kannst doch nicht einfach–?", Ben trat einige Schritte auf mich zu, schubste mich mit seinen Händen leicht zurück, ehe er weitersprach, "Egal wie schlecht es dir verdammt nochmal geht, du kannst doch nicht zum Junkie werden! Das hast du da also gesucht, huh? Zeig her, was hast du dir geholt? Gras? Upper? Meth?!"

Der Ältere wurde immer lauter und lauter, mit jedem Wort zorniger, sodass ich für einige Momente gar eingeschüchtert wurde. Verstummt war ich, verschwunden war meine Empörung, meine Wut, mein Mut. Ich stand einfach bei den Waschbecken der Toiletten und ließ zu, dass Ben meine Jacke abtastete. Doch sobald er meine Brusttasche erreichte, erwachte ich aus meiner Trance. Es war wie bei einem Feuerzeug: Egal wie ungefährlich es wirkte, solange es aus war, sobald man einen Hebel tätigte, entflammte es und strahlte pure Gefahr aus. Genauso ging es mir in jenem Moment. Sauer schlug ich seine Hand von mir und schubste den Jungen zurück, so wie er mich zuvor geschubst hatte. Meine Kiefer mahlten aufeinander, meine Augenbrauen waren stramm zusammengezogen und meine Haltung wurde gefährlicher, gar angriffslustiger.

"Was fällt dir ein, du Hurensohn?! Fass mich noch einmal an und ich hau dir deine Eier bis zum Mund raus, haben wir uns da verstanden?", brüllte ich ihm ins Gesicht und tat, als würde ich mit dem Bein ausholen. In meinen Adern kochte das Blut. Gottverdammt, so wütend war ich schon lange nicht mehr!

Ich drängte den Größeren bis an die nächste Wand, wobei ich ihm keine Fluchtmöglichkeit mehr übrig ließ. Funkelnd blickte ich ihm in die Augen, blendete all das um mich herum aus. Mir war es egal, wo ich war, mit wem ich war und was ich tun würde. Schon lange hatte ich nicht mehr so rot gesehen.

"Ich nehme Drogen, wann ich es will, wo ich es will und mit wem ich es will. Und wenn ich mit deiner Halbschwester an ner Orgie teilnehmen würde, ging dich das nix an, kapiert?! Es geht dich nichts an, dass ich arbeite, es geht dich nichts an, dass ich auch auf Jungs stehe, es geht dich nichts an, dass mein Leben den Bach runter geht, fuck–", ich schlug mit der geballten Faust an die Wand neben seinen Kopf, "Es geht dich auch einen verfickten Scheiß an, dass ich für Geld ficke! Hör einfach auf dich für mein Leben zu interessieren!", warf ich ihm zornig vor die Füße. Mein Körper zitterte vor Wut, meine Stimme bebte und meine Fäuste behielt ich kaum unter Kontrolle. Noch einmal schubste ich ihn gegen die Wand, ehe ich mich schnell von ihm abwandt und aus der Schule rannte.

Erst bei meinem Wagen hatte ich bemerkt, dass mir Tränen über die Wangen liefen, die ich zunächst achtlos mit meinem Handrücken wegzuwischen versuchte. Dass diese aber einfach nicht aufhören wollten zu fließen und ich die nächste Stunde damit verbringen würde, in meinem Auto zu sitzen und zu heulen, wusste ich zu dem Zeitpunkt noch nicht.

Romeo und.. - Julian?!Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt