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Julian Pov.

Die Tage vergehen wie im Flug.

Ja, ein eigentlich gut gemeinter Satz brachte mich momentan zum Verzweifeln.

Sie sollen nicht wie im Flug vergehen!

Nur noch vier kurze Tage und dann würde unser Haus nicht länger uns gehören. Nur noch vier kurze Tage und dann müsste ich mindestens 20.000$ zur Hand zu haben.

Die letzten 48 Stunden hatte ich damit verbracht wieder und wieder über vorhandene und notwendige Geldbeträge zu lesen und abzuwägen, was prinzipiell möglich und nicht möglich wäre. Jedes Mal aufs Neue war ich zu dem Entschluss gekommen, dass es unmöglich war, den kompletten Betrag zusammenzukratzen. Denn Dad hatte monatlich eigentlich nicht einmal die Möglichkeit, etwas von seinem Geld beiseite zu legen. Er finanzierte den Haushalt, unsere Versicherungen und bezahlte die Steuern. Die Tatsache, dass unser Heißwasser jetzt aber schon seit gut zwei Wochen nicht mehr funktionierte, machte mir jedoch deutlich, dass er selbst daran scheiterte. Mit den Steuern, die meine Mutter an Isa und mich abtreten musste, und meinem Einkommen allein hätten wir den Betrag zusammenkratzen müssen.

Verzweifelt raufte ich mir mit einer Hand die Haare, während ich auf das Display meines Handys schaute, welches ich mit der anderen Hand hielt.

Die Tage vergehen wie im Flug.

Das war es, was mir mein Theaterlehrer in den Kopf gesetzt hatte. Bereits gestern hatte er den Notenschluss und die bevorstehenden Abschlussprüfungen angedeutet. Heute hatte er eine E-Mail versendet, in der er auf das Theaterstück und dessen Fortschritt hinwies.

Ich biss mir auf die Lippe und starrte weiterhin ratlos auf das Display. Das tat ich so lange, bis es schwarz wurde und meine Hand sich senkte. Mein Kopf lehnte nach hinten und meine Augen blickten die dunkle Decke des Nebenzimmers an. Mein Rücken fand Halt an der Lehne der Bank, auf welcher ich vor einigen Minuten Platz genommen hatte. Die Bank war sehr kalt, so kalt, dass es mich zum Schaudern brachte. Endlich war meine Schicht in der Crush Bar vorrüber.

Die Tage vergehen wie im Flug. Der Arbeitstag nicht.

Ich schloss meine Augen.

Auch heute war ich in ein Räumchen verschwunden und hatte Extrageld verdient. Schmutziges Geld. Ekliges Geld. Geld, welches ich so eigentlich nicht wollte.

Bilder der vergangenen Stunden mogelten sich vor mein inneres Auge, zeigten mir, was ich mit meinem Leben anstellte, zeigten mir, woran ich mich nicht erinnern wollte. Schwitzige Körper, rotes Licht, unklare Gesichter. Purer Ekel war es, den ich empfand. Sofort riss ich meine Augen wieder auf und wühlte in meinen Jackentaschen herum, nur um feststellen zu müssen, dass diese leer waren. Wütend über mich selbst, aber auch über die leeren Taschen, zischte ich auf. Meine Hände schnappten nach meinem Haustürschlüssel, woraufhin ich zügig aus der Tür verschwand. Kein Tschüss verließ meine Lippen, als ich mich in die kühle Nacht hinausbegab. Kein Lächeln hatte sich auf meine Lippen heraufgezwungen. Stattdessen waren sie zu einem schmalen Spalt zusammengepresst und ließen nur ab und an Luft herein.

Auch dort bemerkte ich, dass es wirklich recht kühl draußen war. Kleine Nebelwölkchen bildeten sich vor meinem Mund, als ich ausatmete. Wie viel lieber es mir wäre, es wäre Rauch, der meinen Mund verließ.

Kurzerhand stopfte ich meine Fäuste in die Jackentaschen und zog diese näher an mich. Es war ein langer Weg nach Hause, da ich mir selbst ein Autoverbot auferlegt hatte und schlichtweg kein Geld für öffentliche Verkehrsmittel auftreiben konnte.

Ich starrte in den sternenlosen Himmel meiner Stadt, während ich den langen Weg nach Hause lief. Immer öfter atmete ich aus, nur um die Illusion einer Zigarette imitieren zu können. Es war grauenhaft. Gestern hatte ich meine letzte Zigarette geraucht und mir seither vorgenommen kein Geld mehr für diese auszugeben. Es mag so aussehen, als sei der Einfall erst viel zu spät gekommen, doch machte ich mir seit längerem Gedanken darüber. Doch immer, wenn ich an einem Zigarettenautomaten vorbeigestolpert war, hatte ich das Versprechen nicht einhalten können. Ein Seufzen entfleuchte meinen Lippen. Immer und immer wieder hatte ich der Versuchung nachgegeben.

Romeo und.. - Julian?!Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt