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Julian Pov.

Es wählte. Mehrfach.

Die Mailbox ging ran. Mehrfach.

Doch dann, ja dann, hob Rick endlich ab.

"Ja, was ist?", konnte ich gestresst durch den Hörer vernehmen. Der Fakt, dass Rick hörbar gestresst wirkte, interessierte mich jedoch nicht wirklich. Vielmehr war es, als wäre ich in einem Tunnel gefangen, ein laut rauschender Tunnel, aus dem ich einfach nur fliehen wollte, bevor er zu überschwemmen drohte. Mehr wollte ich nicht und mehr interessierte mich nicht. Daher bemühte ich mich nicht weiter um Mitgefühl und Einsicht. Rick war doch mein bester Freund, sollte er dann nicht für mich da sein? Sollte er nicht, selbst wenn er gestresst war, Zeit für mich finden können, wenn es mir schlecht ging?

"Kann ich für 'ne Weile bei dir bleiben?", fiel ich mit der Tür ins Haus. Stille. Ungeduldig nagte ich an meiner Lippe und verstand nicht, wieso seine Antwort so lange auf sich warten ließ.

"Nur für ein paar Tage", presste ich daher hinterher und hoffte sehnlichst ein 'Ja' oder ein 'Ok' vom Sonnenschein vernehmen zu dürfen, doch es blieb aus. Das Rauschen des Handys wurde immer lauter und lauter, zog mich tiefer in besagten Tunnel. Der, in dem ich unter keinen Umständen länger verweilen wollte. Der, in dem meine Mutter und mein Vater einen Stock tiefer warteten und mich schelten oder einfach nur reden wollten. Der, in dem ich meiner Schwester erklären musste, dass unsere Mutter wieder anwesend war und plötzlich die heile Familie spielen wollte. Eben der Tunnel, den ich am liebsten nicht einmal betreten hätte.

"Sorry Ian, ist gerade schlecht. Die Tage geht's nicht. Willst du am Handy reden?", kam es nach zu langer Zeit unfreiwillig von meinem besten Freund. Ich hörte, dass er nicht mit mir reden wollte. So kam es mir zumindest vor, weswegen ich sein Angebot ausschlug. Wenn er mich schon nicht um sich haben wollte, dann wollte er mich bestimmt auch nicht hören. Aber wieso? War es wohl doch keine gute Idee gewesen, mit ihm über alles zu reden? Fühlte er sich jetzt bedrängt? Er wollte es doch. Er wollte doch vor ein paar Tagen noch mit mir reden, sich mit mir um meine Probleme kümmern.

"Nein. Bye."

"Hey..", begann er, was mich daran hinderte auf den roten Auflegbutton zu drücken, "noch was..– wir– also wir, wir sollten das mit der F+ sein lassen. Das passt einfach nicht, es ist komisch. Ich hab' meiner Mum schon Bescheid gegeben. Sie wird's verkraften. Hab' ihr gesagt, wir sind wie Geschwister und das wir uns geirrt haben. Julian, wir lassen das, okay?"

Verwirrt und empört lachte ich auf.

"Sicher", entgegnete ich kurz angebunden und legte sofort auf. Wieso machte er das gerade jetzt mit mir? War nicht vor kurzem alles okay? Warum jetzt, wo ich ihn so dringend brauchte?

Wütend starrte ich zu meiner großen Sporttasche, die ich bereits mit Schulzeug und Klamotten gepackt hatte, weil ich davon ausgegangen war, dass Rick mich willkommen heißen würde. Dass er wie versprochen für mich da war. Zornig ballte ich meine Hände zu Fäusten, stand ruckartig auf und trat gegen besagte Tasche. Erst einmal, dann zweimal. Und dann ließ ich mich zurück aufs Bett sacken und starrte unbeholfen auf mein Handy.

Konnte ich zu Jess? Hatte ich denn noch das Recht dazu?

Nicht überzeugt schüttelte ich den Kopf und verwarf die Idee sofort wieder.

Ich hatte sie lange nicht mehr besucht und sie jetzt aufzusuchen, wo ich ihre Hilfe brauchte, das wollte ich nicht. Und ihr dann noch alles, was ich ihr verschwiegen hatte, erklären zu müssen? Das konnte ich nicht. Verbittert nagte ich weiter an meiner schon wunden Lippe.

Ich will doch nur weg von hier. Wieso ist das so schwer?

Meine Hände verfingen sich in meinen Haaren und rauften diese, kurz bevor sie aufgebracht gegen meinen Kopf schlugen. Wieder lachte ich.

"Scheiß Wichser!", murmelte ich, wohlwissend, dass niemand es hören konnte. Wohlwissend, dass ich es aber trotzdem nicht noch einmal lauter schreien würde.

Ich würde nicht hierbleiben. Nicht heute, nicht morgen. Ich wollte nicht in diesem Haus sein. Ich fühlte mich hintergangen und das von so vielen Menschen, die ich mit diesem Haus und dem eine Häuserreihe weiter verband. Wofür hatte ich mir den Arsch aufgerissen und das ganze Geld zusammengekratzt? Damit die wiederkommt und mal kurz den gesuchten Betrag aus ihren Ärmeln schüttelt, nur dass nebenbei ein 'Sorry' mit rauspurzelt und ihr wieder alle zu Füße fallen? Dass sie nicht mehr scheinheilig reuevoll alleine leben muss, sondern einen auf Friede-Freude-Eierkuchen machen kann? Nein. Und die Chance dafür wollte ich ihr auf keinen Fall geben. Sie mochte unsere Familie doch sowieso schon immer lieber ohne mich. Da lief das hier wohl auch ein paar Tage ohne mich wie am Schnürchen.

Rapide stellte ich mich auf, kramte mein wertvolles Pornoheftchen aus dem Schrank, schlug die Seite mit Lisa Anns Brüsten auf und nahm mir das Geld heraus. Dieses packte ich in einen Umschlag und stopfte ihn in die Tiefen meiner Sporttasche.

Humorlos lachte ich. Das Geld, mit dem ich meinem Vater helfen wollte, würde mir nun helfen von meinem Vater Abstand zu nehmen.

Ich schlüpfte in meine alten Schuhe und schulterte meine Tasche, bevor ich – genauso wie Ben einige Stunden zuvor – aus meinem Fenster kletterte und das Weite suchte.

...

"Heyyy! Mit welcher Ehre hab' ich dich verdient?", wollte der ältere Junge grinsend von mir wissen, als er mir die Haustüre zu seiner WG öffnete. Seine Augen fixierten sich hierbei auf die große, vollgepackte Sporttasche in meiner rechten Hand. Ich grinste gezwungen, drückte mich an ihm vorbei und drehte mich erst dann wieder zu ihm zurück.

"Es wird auch echt nicht leichter, eure Treppen hochzulaufen", lenkte ich schnaufend von seiner Frage ab. Darauf lachte der Grünäugige bloß.

"Warte, ich hol dir schnell was zu trinken. Oder weißt du was, komm' gerade mit–", schlug der Ältere vor, wurde aber sogleich von lautem Gebrüll, welches direkt aus dem Wohnzimmer hervorstieß, unterbrochen.

"Jaa.. das ist dann Jax. Ausnahmsweise mal anwesend und nicht am Schlafen", meinte Nelton daraufhin schmunzelnd. Auf meinen fragenden Blick hin murmelte er nur ein 'Mitbewohner', ehe er mich zur Küche lotste, welche sich unmittelbar auch im Wohnzimmer befand.

Dort angekommen konnte ich auch direkt erkennen, weshalb Neltons Mitbewohner so gebrüllt hatte. Es lief gerade Football im Fernsehen. Auch in mein Gesicht wagte sich nach langen Stunden wieder ein schüchternes, aber ehrliches Schmunzeln.

"Alter, Jax! Mach' leiser!", brüllte Nelton lachend zu dem jungen Mann hinüber. Dieser drehte sich sofort um, die Empörung direkt ins Gesicht geschrieben, bis er mich erblickte.

"Oh, hi. Sorry, hab' euch nicht gehört. Bin Jax", stellte sich dieser zwar kurz aber dennoch freundlich vor. Man konnte ihm wirklich ansehen, dass er dieses Spiel gerne sehen wollte. Ich nickte dem Jungen zu.

"Julian", entgegnete ich ihm lächelnd.

"Magst du Football?", wollte Jax interessiert wissen, zwar wieder die Augen auf den Bildschirm gerichtet, aber dennoch auch alle paar Sekunden zu mir herüberfunkelnd.

"Jup, bin aber eigentlich eher ein Fußball-Fan."

"Willst' Mitschauen?", fragte er und legte den Kopf leicht schief.

Gerade als ich ernsthaft abzuwägen schien, ob ich mich so eventuell ablenken wollte und konnte, hielt mir Nelton ein Glas Wasser vor die Nase.

"Sorry Bro, aber Ian muss was mit mir klären", entschied mein Kumpel für mich, bevor er zu seinem Zimmer zeigte und mir somit verdeutlichte, dass wir dort unsere Ruhe hätten.

Zwar war ich mir nicht sicher, ob mir das so lieb war, doch musste ich ihm letztendlich wohl zumindest ein wenig von meiner Lage erklären, bevor ich mich hier einquartierte.

Dass der Junge mir aber bei unserer letzten Begegnung gebeichtet hatte, dass er mich sehr gerne mochte, ließ mich zunehmend nervös über die Tatsache werden, mich sogleich mit ihm alleine in seinem Zimmer befinden zu müssen.

Romeo und.. - Julian?!Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt