- 29 -

621 35 1
                                    

Seit Shawn mir geschrieben hatte, hatten wir uns regelmäßig Nachrichten geschickt. Soweit ich es sah, waren wir auf dem besten Weg, wirklich wieder Freunde zu werden. Auch mit Sebastian hatte ich mich noch öfter getroffen, doch unsere Beziehung war nur körperlicher Art und ich denke, das war besser für uns beide. Ich hatte ihm offen und ehrlich gesagt, dass ich im Moment nicht auf der Suche nach einer festen Beziehung war und damit war er total einverstanden. Er war wirklich nett und er half, mich von Shawn abzulenken. Natürlich würde es etwas dauern, bis alles zwischen Shawn und mir wieder normal sein könnte, aber ich musste einfach versuchen, meine Gefühle für ihn zu unterdrücken.
Es war bereits 22 Uhr, als mein Handy vibrierte.

Shawn
Hey :)

Shawn
Kann ich dich anrufen?

Verwundert zog ich eine Augenbraue nach oben. Wieso wollte er telefonieren?

Lyra
Klar

Lyra
Immer, Shawn.

Nur wenige Sekunden später klingelte mein Handy und lächelnd ließ ich mich auf mein Bett fallen, bevor ich abnahm.
"Hey", sagte ich lächelnd.
"Hi."
"Alles okay?", fragte ich etwas besorgt.
"Nicht wirklich", erwiderte er und erst jetzt hörte ich, dass er am anderen Ende schniefte.
"Was ist passiert?"
"Panikattacke. Ich komm schon klar."
"Oh, Shawn..."
"Ich habe deine Stimme vermisst", flüsterte er, worauf ich traurig lächelte.
"Wir hatten doch darüber geredet", murmelte ich.
"Das war keine romantische Anspielung, es war die Wahrheit", erwiderte er. "Deine Stimme beruhigt mich."
"Okay", murmelte ich. "Weshalb hattest du die Attacke?"
"Keine Ahnung."
"Du lügst. Was war der Grund?", hakte ich nach und starrte die Decke an.
Am anderen Ende herrschte Schweigen. "Na, sag schon."
"Das Übliche. Mein ganzes Leben und... Ach, egal."
"Nein, nicht egal", gab ich zurück. "Wir sind beste Freunde. Du kannst mir alles sagen."
"Habe ich dich verletzt, Lyra?", fragte er mit leiser Stimme, die so weinerlich klang, dass mir selbst die Tränen kamen.
"Shawn..."
"Als du nach New York gekommen bist, habe ich dich da verletzt?"
"Das ist doch nicht wichtig, Shawn", erwiderte ich, als ich mir eine einzelne Träne wegwischte.
"Für mich schon", sagte er mit gebrochener Stimme.
"Sha-"
"Sag mir die Wahrheit, Lyra."
"Warum ist dir das so wichtig?"
"Weil du mir verdammt nochmal wichtig bist, Lyra", sagte er nun etwas aufgebracht. "Und ich zerbreche mir jetzt seit ich dich an den Flughafen gebracht habe den Kopf darüber. So wie du mich angesehen hast. Fast wie damals nach dem Unfall. An dem wohl auch ich die Schuld trage. Warum kann ich in meinem Leben nicht ein einziges Mal das Richtige tun."
"Shawn, es ist zwei Jahre her. Du hattest keine Schuld an diesem Unfall. Wir waren einfach zur falschen Zeit am falschen Ort."
"Lyra, du verstehst es einfach nicht. Ich weiß nicht, warum du mich einfach so in dein Leben zurücklasst."
"Wieso sollte ich das nicht?", fragte ich ihn, worauf er wieder schluchzte.
"Weil ich dir alles genommen habe. Deine Familie. Ich habe dir das Herz so viele Male gebrochen und immer vergibst du mir und wenn wir mal ehrlich sind, habe ich dich nicht verdient."
"Sag doch sowas nicht."
"Was wenn du mich niemals kennengelernt hättest? Wie viele Dinge wären heute anders? Deine Familie wäre noch am Leben, du wärst wahrscheinlich noch mit Nate glücklich. Ich habe dir das Leben ruiniert. Ich habe dich einfach alles gekostet."
"Das stimmt nicht. Nichts von allem", erwiderte ich. "Selbst wenn wir uns nie begegnet wären, wäre unser Auto von der Brücke gestürzt, weil ein anderes Fahrzeug uns gerammt hat. Und ich wollte mit dir schlafen, Shawn. Das war meine Entscheidung. Ich wusste, dass ich meine Beziehung mit Nate aufs Spiel setze."
Er schluchzte wieder.
"Du hast mir so vieles gegeben, Shawn. Dank dir bin ich wieder auf die Beine gekommen. Und du warst meine erste große Liebe und auch mein erstes gebrochenes Herz. Und als du mich zum Flughafen gebracht hast, war ich verletzt. Aber ich war nicht wütend auf dich, sondern auf mich selbst. Du wolltest keine Beziehung mehr und das nehme ich dir nicht übel."
"Wirklich?"
"Ehrlich", erwiderte ich. "Mach dir keine Sorgen um mich, okay? Du hast schon genug um die Ohren. Ich komme klar. Und wenn du dir nächstes Mal den Kopf zerbrichst, rufst du früher an, verstanden?"
"Okay", erwiderte er. "Wie geht's dir?"
"Gut", sagte ich. "Wirklich gut."
"Ist irgendwas passiert?"
Jetzt wäre der perfekte Zeitpunkt Sebastian zu erwähnen.
"Nein... Ich war nur seit längerem mal wieder tanzen."
Ich konnte es ihm nicht sagen. Sebastian war nur eine Affäre und selbst wenn Shawn und ich Freunde waren, musste er nicht alles von mir wissen, vor allem nicht, wenn er sich sowieso schon den Kopf über mich zerbrach.
"Was gibt es bei dir Neues?"
"Wir sind bald mit dem Album fertig", sagte er.
"Das freut mich."
"Es ist zurzeit alles sehr stressig. Ich habe einfach Angst, dass das Album ein totaler Reinfall wird und das wars dann mit meinem Traum."
"Das Album wird kein Reinfall sein, Shawn."
"Danke, Lyra."
"Also... Als ich bei dir in New York war, da war eine Frau bei dir. Seid ihr zusammen?"
"Ich weiß nicht, ob wir darüber reden sollten."
"Wieso denn nicht?", gab ich zurück. "Wir sind doch Freunde, oder nicht?"
"Du hast Recht. Ich weiß nicht so richtig, ob wir zusammen sind. Wir sind uns näher gekommen."
"Ach, ich dachte ihr wärt euch schon ziemlich nah? So sah es nämlich aus", sagte ich, worauf Shawn lachte.
"Keine Ahnung, ob das zwischen uns irgendwas Ernstes wird."
"Okay. Cool. Das freut mich für dich", log ich. Eigentlich zerschlug es mein Herz in Stücke.
"Danke", erwiderte er, worauf ich mich räusperte. Sollte ich ihm von Sebastian erzählen? Würde es ihn denn genau so eifersüchtig machen wie mich? "Wie sieht's bei dir aus? Jemanden kennengelernt?"
Hörte ich da einen Hauch von Anspannung in seiner Stimme?
"Nope", gab ich zurück. "New York ist noch nicht sehr lange her."
"Ich nehme an, an deinen Gefühlen hat sich also nichts geändert?"
"Nein", erwiderte ich und starrte weiterhin an die Decke, so als könnte sie mir alle Antworten geben, wenn ich nur lange genug hinsah. "Ich will aber nicht, dass wir uns deshalb streiten. Nicht nochmal. Ich will, dass zwischen uns alles normal ist."
"Das will ich auch", sagte er. "Du bedeutest mir wirklich sehr viel. Ich will dich nicht nochmal verlieren."
"Das wirst du auch nicht. Ich werde dir noch eine Weile auf die Nerven gehen."
Shawn lachte am anderen Ende und belebte so die Schmetterlinge in meinem Bauch wieder.
"Du bist das Einzige, was mir von der Vergangenheit übrig bleibt."
"Wie meinst du das?", hakte ich neugierig nach.
"Alles in meinem Leben verändert sich und manchmal wünschte ich, dass ich wieder zurück in mein normales Leben könnte. Ich weiß, das klingt lächerlich. Aber du bist eines der letzten Überbleibsel meines normalen Lebens. Wenn ich mit dir zusammen bin und mit dir rede, bin ich einfach nur ich selbst. Bei dir kann ich einfach normal sein. Das will ich nicht verlieren."
"Ich glaube, dass alles, was in den letzten Monaten geschehen ist, beweist, dass wir uns niemals verlieren werden. Egal wie sehr ich es versuche, dich werde ich wohl einfach nicht los."
"Hast du nochmal mit Nate gesprochen?"
"Nein", erwiderte ich. "Es ist unangenehm, wenn ich ihn in der Uni sehe und weiß, was ich ihm angetan habe."
"Tut mir leid."
"Muss es nicht", sagte ich. "Jemanden wie ihn habe ich sowieso nicht verdient."
"Und wen verdienst du?"
Dich.
"Keine Ahnung. Eigentlich will ich im Moment mit niemandem zusammen sein. Ich genieße es einfach nur frei zu sein."
Es herrschte kurzes Schweigen.
"Ich wünschte, ich könnte das auch so sehen. Ich fühle mich manchmal so allein", erzählte er. "Den ganzen Tag habe ich Menschen um mich und dann bin ich Zuhause und merke erst wie einsam mein Leben eigentlich geworden ist."
"Nur, dass das klar ist... Wenn du dich einsam fühlst, rufst du an, okay?"
"Ja", wisperte er.
"Ich weiß wie es sich anfühlt, einsam zu sein. Und ich will nicht, dass du dich so fühlen musst. Also wenn ich irgendwas tun kann-"
"Du tust schon mehr als genug für mich, Lyra. Ich weiß, dass du immer ein offenes Ohr für meine Probleme hast, aber ich will, dass du weißt, dass auch meine Tür immer für dich offen steht."
"Das weiß ich zu schätzen, Shawn", gab ich gähnend zurück. "Ich bin ziemlich müde. Ich sollte jetzt schlafen, ich muss morgen früh raus."
"Okay. Schlaf gut, Lyra. Und Dankeschön."
"Gute Nacht."
Lächelnd legte ich auf und die ohrenbetäubende Stille trieb mich fast in den Wahnsinn. Egal, wie sehr ich zu schlafen versuchte, mein Gehirn ließ mich nicht schlafen, wenn ich an Shawn dachte und wie er mit dieser Blondine seine Zeit verschwendete, während ich hier direkt vor seinen Augen war.
Seufzend schaltete ich die Lampe neben meinem Bett an und griff nach meinem Handy. Ich wollte gerade auf Shawns Chat tippen, doch stoppte mich selbst.

Lyra
Hey. Bist du wach?

Sebastian
Kannst du nicht schlafen?

Lyra
Nope

Lyra
Kommst du vorbei?

"Wer war eigentlich der Typ, der bei dir geschlafen hat?", fragte Erin neugierig nach, als wir uns an den Tisch im Café gesetzt hatten. Wir hatten uns direkt nach der Uni verabredet.
"Was für ein Typ?", fragte ich scheinheilig und nippte an meinem Kaffee.
"Die Wände sind dünn, Lyra."
"Oh mein Gott", murmelte ich und vergrub mein Gesicht in meinen Händen.
"Hey, nichts für das du dich schämen musst. Aber das nächste Mal würde ich gerne informiert werden, wenn ihr am Morgen danach zusammen unsere Dusche benutzt."
"Waaas? Das-"
"Lyra, komm schon."
"Okay. Tut mir leid. Kommt nicht wieder vor."
"Ist das was Ernstes zwischen euch?"
"Nicht wirklich", erwiderte ich schulterzuckend.
"Vielleicht wird es das ja. Es wäre wirklich toll, wenn du nach der ganzen Shawn-Geschichte jemanden finden würdest. Aber wie es aussieht ist Shawn ja Schnee von gestern."
Wenn sie nur wüsste.

Tides [german] Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt