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Als ich in der Hofeinfahrt parkte, war es bereits spät. Es war schön gewesen, mit Shawn zu reden und obwohl es so schien als ginge es ihm besser, machte ich mir große Sorgen. Mit Panikattacken war nicht zu spaßen. Nach dem Tod meiner Familie hatte ich auch immer wieder welche gehabt. Ich erinnerte mich, wie sich das anfühlte. Als würde man ertrinken und hätte keine Kontrolle darüber. Wenn ich an diese Attacken zurückdachte, fiel es mir schwer. Wenn ich daran dachte, dass Shawn das durchmachen musste, schmerzte mein Herz. Denn obwohl er mich verletzt hatte, wollte ich nicht, dass er diesen Schmerz spüren musste.
Ich schloss die Haustür auf und trat so leise wie möglich in den dunklen Hausflur. Ich zog meine Schuhe aus, als plötzlich das Licht anging, worauf ich zusmmenzuckte. Nate stand im Türrahmen zur Küche und sah mich mit verschränkten Armen an. "Hey."
"Du hast mich erschreckt", erwiderte ich schlicht und lächelte ihn schwach an.
"Es ist ein Uhr nachts... Wo warst du? Ich habe mir Sorgen gemacht", hakte er nach und machte ein paar Schritte auf mich zu.
Ich hätte ihm unmöglich erzählen können, dass ich mitten in der Nacht bei Shawn gewesen war. Wir hatten uns heute immerhin schon gestritten und ich wollte nicht noch mehr Schaden anrichten. Ich wusste, dass Nate mir vertraute, doch er war auch eifersüchtig auf Shawn. Wenn ich ihm jetzt erzählte, dass ich mitten in der Nacht bei ihm gewesen war, was würde er dann denken? Ich musste ihn wieder belügen und ich wusste, dass ich mich mit jeder Lüge von ihm entfernte.
"Tut mir leid, dass du dir Sorgen gemacht hast", entschuldigte ich mich mit glasigen Augen. Ich hasste es zu lügen. "Ich bin einfach nur mit offenem Fenster durch die Gegend gefahren. Ich musste den Kopf freikriegen."
Er sah mich traurig an, weshalb es noch mehr wehtat ihn anzulügen. Ich war mitten in der Nacht bei einem anderen Mann gewesen, weil mir sein Wohlergehen wichtiger gewesen war als den Streit mit Nate zu klären.
"Nate, ich wollte nicht, dass du sauer bist. Du hattest so einen schönen Abend für uns geplant und ich habe alles ruiniert. Warum ruiniere ich eigentlich alles, was ich anfasse?", sagte ich, als eine Träne meine Wange hinunterlief, die ich schnell wegwischte.
"Hey", sagte Nate und nahm meine Hand in seine, während er mir mit der anderen die Haare aus dem Gesicht strich. "Es tut mir Leid, dass ich direkt so wütend auf dich war, Lyra. Und du ruinierst nicht alles, Lyra, ganz im Gegenteil. Alles, was du berührst wird wunderschön."
Ich lächelte ihn durch meine Tränen an. "Ich mach das wieder gut."
"Das musst du nicht", sagte Nate. "Ich liebe dich, Lyra. Mehr als alles andere."
"Ich liebe dich", erwiderte ich, doch es war nicht mehr als ein Flüstern.
"Kommst du mit ins Bett?", fragte er, worauf ich nickte.
Und als ich dort neben ihm lag in seinem an mir übergroßen T-Shirt, sein Arm um meine Hüfte geschlungen, konnte ich nicht aufhören an ihn zu denken. An Shawn. Früher waren wir genauso gewesen wie Nate und ich. Es schien eine Ewigkeit entfernt zu sein, doch wenn ich meine Augen schloss, fühlte ich seine Berührungen. Nates Arm fühlte sich an wie Shawns. Muskulös, beschützerisch. Als ich dort lag, und fast in den Schlaf abdriftete, kam mir eine fast verwaschene Erinnerung von Shawn.
"Kaum zu glauben, dass die uns rausgeworfen haben", jammerte Shawn, als wir durch die Tür kamen.
"Deine Gesangseinlage hat ihnen wohl nicht gefallen", erwiderte ich und ließ mich auf die Couch fallen. "Nicht jeder weiß wahres Talent zu würdigen."
Shawn lächelte mich an, auf die Art und Weise, die mich rot anlaufen ließ. "Tut mir leid, dass ich uns den Abend ruiniert habe."
"Ist das dein Ernst, Shawn?", fragte ich ihn und stand vom Sofa auf, um meine Arme um seinen Hals zu legen. "Das war ein wunderschöner Abend, von dem Moment in dem du mich abgeholt hast, bis zum Rausschmiss aus dem Restaurant. Naja... Jetzt schuldest du mir einen Tanz für unser nächstes Date. Du hast es mir versprochen!"
"Warum für unser nächstes Date?", gab er zurück.
"Shaaawn! Du hast es versprochen. Versprochen ist versprochen und wird nicht gebrochen!", erwiderte ich, worauf er mich anlächelte.
"Du bist so süß, ich bekomme noch einen Zuckerschock", sagte er mit einem breiten Grinsen. "Und eigentlich meinte ich damit... warum tanzen wir nicht jetzt?"
"Wir brauchen Musik", sagte ich, worauf Shawn seine Hände zu meinen Hüften wandern ließ.
"Brauchen wir die?", erwiderte er grinsend, bevor er langsam anfing zu tanzen. "Ich werde dir auf die Füße treten."
"Damit kann ich leben", erwiderte ich und drückte ihm einen Kuss auf die Lippen, den er sanft erwiderte, während wir im gleichen Takt über den Wohnzimmerboden tanzten.
"Du bist echt ein Romantiker, Mendes", flüsterte ich, worauf er mir etwas näher kam und begann zarte Küsse auf meinem Hals zu verteilen. Er wanderte nach oben, über meine Wangenknochen zu meinen Lippen. "Ich liebe dich, Lyra", flüsterte er gegen meine Lippen.
"Ich liebe dich", erwiderte ich grinsend, worauf Shawn mich leichtfertig über seine Schulter warf und die Treppen nach oben trug, während ich durchgehend lachte.
Oben angekommen trug er mich ins Schlafzimmer und legte mich sanft auf dem Bett ab, bevor er mich wieder küsste.
"Du siehst atemberaubend aus in diesem Kleid", flüsterte er und sah mich liebevoll an.
"Shawn", erwiderte ich und blickte ihn mit hungrigen Augen an. "Zieh es aus."
"Was immer du willst, Baby."
Ich schreckte im Bett hoch, was Nate aufweckte. "Alles okay?"
"Ja", log ich. "Ich hatte nur einen Albtraum."
"Komm her", sagte er, worauf mich wieder in seine Umarmung ziehen ließ und hoffte, Shawn aus dem Kopf zu kriegen. Ich wollte hier mit Nate liegen, ohne daran zu denken was ich mit Shawn im selben Bett getan hatte.

"Hast du alles?", fragte ich Nate, der nach seiner Reisetasche griff und nickte.
"Naja, du fehlst", erwiderte er, worauf ich lächelte und meine Arme um seinen Hals legte.
"Ich komme bald nach, okay?"
Er nickte und küsste mich ein letztes mal zum Abschied. Ich wartete an der Tür, bis er in seinen Mietwagen gestiegen war und mir nochmals zuwinkte, bevor er losfuhr. Ich schloss die Tür hinter mir und lief ins Wohnzimmer, um meine Nachrichten zu beantworten.
Eine von ihnen war von Shawn. Ich hatte Nate nichts davon erzählt, aber wir hatten uns hin und wieder geschrieben. Seit ich bei ihm gewesen war, ging er mir nicht aus dem Kopf und ich hasste mich dafür. Ich war in einer glücklichen Beziehung und das sollte auch so bleiben. Ich musste mich davon überzeugen, dass ich keinerlei Gefühle mehr für Shawn hatte.

Shawn
Was machst du ?

Die naheliegende Antwort war, an ihn zu denken. Rund um die Uhr.

Lyra
Nate ist gerade gegangen :(

Shawn
Tut mir leid.

Shawn
Lebt ihr eigentlich zusammen?

Lyra
Ja

Lyra
Ich weiß, das ging schnell, aber
ich hasse es alleine zu sein

Shawn
Ich weiß

Shawn
Also falls du mal Gesellschaft
brauchst, sag einfach Bescheid

Lyra
Ich bin froh, dass wir wieder
Freunde sind.

Shawn
Ich auch

Shawn
Du ahnst garnicht wie
froh ich bin.

Seufzend legte ich mein Handy weg. Keine Gefühle. Ich liebte Nate und über Shawn war ich längst hinweg. So musste es auch bleiben. Nur Freunde. Und Nate musste ich auch erzählen, dass ich wieder Kontakt mit Shawn hatte. Ich konnte ihn nicht weiter belügen.

Tides [german] Where stories live. Discover now