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Shawn ignorierte die Stimme hinter sich, als er in mein verwirrtes Gesicht blickte.
"Wer ist da in deiner Wohnung?", hakte ich nach.
"Ist nicht so wichtig", entgegnete Shawn und knöpfte seine Jeans zu. "Willst du reink-"
"Ist das dein verdammter Ernst?", fragte ich ihn, worauf er seine Augenbrauen verwirrt zusammenzog. 
"Was meinst du denn?", fragte er keuchend.
"Du bist wirklich unglaublich", murmelte ich.
"Lyra, was ist denn los?"
"Was los ist? Du wusstest, dass ich herkomme und vergnügst dich mit irgendeiner-" 
"Shawn?", hörte ich die Stimme wieder aus der Wohnung rufen. Eine schlanke Blondine, die lediglich Shawns Shirt trug, trat hinter ihn. "Wer ist sie denn?" 
"Du bist so ein verdammtes Arschloch, Shawn", zischte ich und wollte mich gerade umdrehen, um die Treppen wieder hinunterzurennen und schnell zu flüchten, als er mich am Handgelenk festhielt. 
"Lyra, was-"
Bevor er ausreden konnte, holte ich mit meiner Hand aus und verpasste ihm eine Ohrfeige, worauf er von mir abließ. Shawn blickte mich geschockt an und ich hörte die Blondine murmeln: "Was ist denn mit der los?"
Mit Tränen in den Augen machte ich auf dem Absatz kehrt und stürmte die Treppen des Wohnhauses hinunter.
"Lyra, jetzt warte doch!", hörte ich Shawn rufen, doch ich wollte einfach nur weg von ihm. Durch die Tränen in meinen Augen konnte ich kaum noch klar sehen, weshalb ich mich bemühen musste, nicht die Treppen hinunterzustürzen. Wie konnte er mir das nur antun? Erst machte er mir Hoffnungen, redete von mir, als wäre ich die Einzige in seinen Augen und dann vergnügte er sich mit einer anderen, während er genau wusste, dass ich auf dem Weg zu ihm war. Ich wusste nicht genau, wo ich jetzt hinsollte, immerhin war ich noch nie in New York gewesen. Wenn ich doch nur niemals in dieses Flugzeug gestiegen wäre. In diesem Moment wünschte ich mir, ich hätte Shawn nie wieder getroffen. Ich wünschte mir so sehr, einfach bei Nate zu sein und mit ihm zu kochen oder Disney-Filme zu schauen, bis wir beide auf dem Sofa einschliefen. Aber ich hatte mich natürlich mal wieder für den Falschen entschieden. Ich musste ja unbedingt mit Shawn schlafen und meine alten Gefühle für ihn wieder aufleben lassen. Wieso brachte ich mich denn immer wieder in solche Situationen? 
Gerade als ich durch die Eingangstüre des Gebäudes gelaufen war und die frische Luft mich umhüllte, hörte ich Shawn hinter mir. "Lyra!"
Ich ignorierte ihn einfach und lief weiter.
"Lyra, warte bitte!" 
Leider konnte ich nicht schneller laufen, da ich vom Weinen bereits Seitenstechen hatte und nur nach wenigen Sekunden hatte Shawn mich eingeholt und blieb vor mir stehen. Ich wollte an ihm vorbeigehen, doch er hielt mich an meinen Schultern zurück, worauf ich ihn verletzt ansah. Als er mich anblickte, runzelte er seine Stirn vor Sorge. "Was ist los?"
"Das kannst du jetzt gerade nicht ernsthaft fragen, Shawn", gab ich zurück, als meine Stimme brach.
Shawn sah mich weiterhin verwirrt an und legte seine Hände an meine Wangen, um mit seinen Daumen meine laufenden Tränen wegzuwischen. Ich nahm seine Hände und zog sie von meinem Gesicht weg. "Hab ich was falsch gemacht?"
Ich schüttelte verächtlich lachend den Kopf, während neue Tränen sich ihren Weg über meine Wangen bahnten. Ich seufzte und wischte sie frustriert weg. "Kannst du dir das nicht denken?"
"Lyra", sagte Shawn. "Bitte sag mir, was ich getan habe. Ich verstehe nicht, wieso du weinst und wieso du vor mir wegrennst." 
"Es braucht nicht viel, um das zu verstehen, Shawn."
Er seufzte und nahm meine Hand in seine.
"Mach das nicht."
"Was denn?", fragte er mit ernster Stimme. "Was denn, Lyra? Jedes Mal, wenn wir uns sehen, habe ich das Gefühl ich mache die ganze Zeit Fehler und ich verstehe nicht, was du willst."
"Was ich will?", erwiderte ich mit zitternder Stimme. 
Er seufzte und blickte mich mit großen Augen an. 
"Du bist so ein verlogener Mistkerl, Shawn. Weißt du eigentlich, was du mir hier antust? Du verletzt mich immer wieder und ich bin auch noch so dumm und vertraue dir wieder. Und jetzt stehst du hier vor mir und fragst mich, was du falsch gemacht hast?"
Ein Mann, der an uns vorbeiging, blickte uns verwirrt an und lief kopfschüttelnd weiter.
"Lyra, wollen wir nicht reingehen und dort darüber reden?", fragte er leise. "Du machst wirklich eine Szene hier draußen und-"
"Ist mir scheißegal", erwiderte ich jetzt etwas lauter. "Dann mache ich eben eine Szene. Es ist mir sowas von egal, ob ich dich hier in aller Öffentlichkeit blamiere, wenigstens weiß dann jeder, was für ein Arschloch du bist."
Gerade wollte ich mich wieder an ihm vorbeidrängen, als er mich an den Handgelenken festhielt. "Lass mich verdammt nochmal los!"
"Lyra, jetzt hör auf dich wie ein Kind aufzuführen und sag mir, was dein Problem ist. Du tauchst vor meiner Tür auf und ich freue mich auf dieses Wochenende mit dir und plötzlich verpasst du mir eine Ohrfeige und veranstaltest hier draußen eine Szene", zischte er mich an. "Was willst du denn, Lyra? Was ist das Problem? Was habe ich dieses Mal falsch-"
"Ich will dich, Shawn", platzte es aus mir heraus und ich konnte förmlich beobachten, wie sein Gesicht weicher wurde. 
"Oh."
"Oh? Das ist alles, was du dazu zu sagen hast?" 
"Was erwartest du denn von mir?", fragte er. "Ich wusste ja nicht, dass du noch solche Gefühle für mich hast."
Ich schüttelte wieder den Kopf und blickte ihn enttäuscht an. "Du wusstest es nicht? Warum hast du dann gesagt, dass du mich nie richtig loslassen konntest? Warum warst du eifersüchtig auf Nate und wolltest, dass ich ihn verlasse? Warum hast du von einem Neuanfang gesprochen, wenn du nie einen wolltest?"
"Lyra", murmelte Shawn. 
"Hör auf ständig meinen Namen zu sagen."
"Ich sehe in dir momentan nicht mehr als eine gute Freundin, okay? Ich dachte wir können einen Neuanfang als Freunde wagen. Du weißt, dass Nate uns immer im Weg stand. Und klar, haben wir ein paar Mal miteinander geschlafen, aber es hat nichts für mich bedeutet, Lyra. Es tut mir leid, wenn du das anders siehst. Ich wollte dich nie verletzen, aber ich fürchte, du hast mich einfach falsch verstanden."
"Das redest du dir doch selbst nur ein, Shawn. Sind wir mal ehrlich, in den letzten Wochen, hast du ständig Anspielungen darauf gemacht, dass du mich noch liebst. Du hast mir gesagt, dass du einen Neuanfang willst und dass du mich einfach nicht loslassen kannst. Und du hast mich davon überzeugt, die Sache mit Nate nicht zu retten. Tut mir also leid, wenn ich dich falsch verstanden habe, Shawn, aber ich finde, dass alles was du gesagt hast ziemlich eindeutig war", erwiderte ich. "Und dann habe ich auch noch mit dir geschlafen, weil du mir immer noch etwas bedeutest und ich dachte, dass ich dir auch was bedeute, dabei hast du mich nur ausgenutzt. Diese ganzen Wochen lang hast du mich an der Nase rumgeführt und wahrscheinlich mit anderen Frauen geschlafen, während ich mir eingeredet habe, ich wäre die Einzige für dich. Weißt du, wie sich das anfühlt?" 
"Ich dachte für dich war das auch alles bedeutungslos", entgegnete er. 
"Du bist wirklich erbärmlich, Shawn. Dachtest du denn wirklich, dass ich einen tollen Kerl wie Nate einfach so aufgebe, um mit dir bedeutungslosen Sex zu haben?"
"Lyra, nicht so lau-"
"Nein! Weißt du was? Du machst mir seit Wochen Hoffnungen. Und statt mir zu sagen, dass es für dich rein gar nichts bedeutet, sagst du mir, wie viel ich dir bedeute und wie sehr du mich vermisst hast. Sag mir jetzt nicht, dass das nach gar nichts klingt, Shawn."
"Wie hätte ich das denn wissen sollen?" 
"Offensichtlich verstehst du nichts von Frauen, Shawn. Oder von Liebe. Alles, was in den letzten Wochen passiert ist, hat mir so viel bedeutet", gab ich zurück. "Du wusstest genau, was ich für dich empfinde. Ich habe es dir so oft gesagt. Ich hatte die härteste Trennung von Nate, weil ich so in dich verliebt bin. Ich habe einen so guten Menschen wie ihn verletzt, sodass er seinen Schmerz in Alkohol ertränken musste und ich mir jeden Tag Sorgen machen muss, dass er sich sonst was antut. Und dann lädst du mich nach New York ein und willst, dass ich bei dir schlafe und ich habe mich so gefreut, dich endlich wiederzusehen und dich zu küssen und Zeit mit dir zu verbringen und statt mich zu erwarten, schläfst du einfach mit einer anderen. Weißt du wie sich das anfühlt?"
Shawn schwieg und schluckte schwer.
"Bedeutet sie dir irgendwas?", hakte ich nach, worauf er seufzte. "Ich nehme an, dass sie dir auch nichts bedeutet. So wie ich. Also war ich für dich nur eine von deinen Schlampen, mit denen du dich ein paar Mal vergnügst, bis du mit der nächsten weitermachst?"
"Du warst nie unbedeutend für mich, Lyra", entgegnete Shawn. "Du bist meine beste Freundin und zwischen uns hat es einfach wieder gefunkt und das ist der einzige Grund, weshalb ich mit dir geschlafen habe. Ich wollte in dir nicht den Eindruck erwecken, dass ich wieder mit dir zusammen sein will."
"Genau den Eindruck hat es auf mich gemacht, Shawn."
"Gut, vielleicht hätte ich mal erwähnen sollen, dass es mir bei der ganzen Sache um nicht mehr als unsere Freundschaft ging."
"Ja, vielleicht hättest du das erwähnen sollen", murmelte ich.
"Ich wollte dich nicht verletzen, Lyra."
"Shawn, du kennst mich jetzt schon lange. Dachtest du denn wirklich, ich würde einfach so mit dir schlafen, wenn es mir nichts bedeuten würde? Das hätte ich von dir eigentlich auch nicht erwartet."
"Menschen ändern sich, Lyra." 
"Nur dumm, dass du dich zum Schlechten verändert hast."
"Ich-"
"Ich will keine Ausreden mehr hören. Ich will kein Wort mehr von dir hören, Shawn. Du wolltest vielleicht wieder mit mir befreundet sein, aber ich war trotzdem eine bedeutungslose Nummer für dich, genau wie alle anderen."
"Du warst nicht bed-"
"Hör auf das ständig zu sagen! Welcher Typ schläft denn einfach so mit seiner besten Freundin und tut dann so als hätte es garnichts bedeutet? Du hast alles für mich kaputt gemacht. Schon von dem Zeitpunkt an, als du wieder in mein Leben getreten bist, hast du es ruiniert."
"Ich habe dich nie gezwungen mit Nate Schluss zu machen, Lyra. Wenn sich hier jemand sein eigenes Leben ruiniert hat, dann warst es ja wohl du selbst."
"Ich habe das alles getan, weil ich dich liebe, Shawn. Und ich will einfach nur glücklich sein und das war ich, bevor du wieder vor meiner Tür aufgetaucht bist. Ich-"
"Hör auf das alles auf mich zu schieben, Lyra!", erwiderte Shawn nun lauter. "Du wolltest auch mit mir schlafen und du hast Nate monatelang belogen. Niemand hat dich dazu gezwungen. Du hast mich einfach falsch verstanden. So warst du schon immer. Du schiebst deine Schuld immer auf andere Menschen ab, weil du selbst nicht damit umgehen kannst, genau wie nach dem Unfall deiner Familie-"
Als er merkte, in welche Richtung sein Satz führte, verstummte er. "Lyra, tut mir leid-"
"Lass es einfach gut sein, Shawn", winkte ich ab und drängte mich an ihm vorbei, während erneut Tränen in meinen Augen entstanden.

Tides [german] Where stories live. Discover now