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Ich schaute Nate hinterher, der wütend die Treppen hochstapfte und wusste nicht recht, was ich tun sollte. Ihm nachzulaufen, um mich zu entschuldigen, wäre vermutlich die beste Entscheidung gewesen, doch andererseits sah ich es nicht ein. Was konnte ich denn dafür, wenn Shawn mich auf einmal so oft anrief? Ich war noch nicht mal rangegangen, ich hatte seine Anrufe ignoriert und ihn weggedrückt. Mehrmals. Klar, für Nate war es blöd gewesen, aber er hatte kein Recht jetzt so beleidigt und sauer zu sein. Ich stand also für einige Minuten einfach nur im Flur und überlegte, ob ich mich nun entschuldigen sollte oder nicht. Langsam lief ich in den oberen Stock und öffnete vorsichtig die Tür zu meinem Zimmer. Das Licht war bereits ausgeschaltet, doch in der Sekunde, in der ich ins Zimmer kam, drehte sich Nate mit dem Gesicht weg von der Tür und drehte mir den Rücken zu. Ich unterdrückte ein Seufzen und griff nach meinem Schlafanzug.
"Nate?", flüsterte ich, als ich wieder im Türrahmen stand. Für einige Sekunden wartete, ob er antworten würde, doch er bestrafte mich mit Schweigen und ich verließ das Zimmer. Wenn er unbedingt streiten wollte, konnte er das tun, doch ich hätte den Konflikt um ehrlich zu sein lieber aus der Welt geschaffen. Ich schaltete das Licht im Bad an und entledigte mich meiner Kleidung, ehe ich mich unter die Dusche stellte. Das heiße Wasser prasselte auf meinen angespannten Körper und ich atmete auf. Ich hatte nicht geahnt, wie sehr ich diese Dusche gebraucht hatte. Als ich sie verließ und mich in ein Handtuch wickelte, waren bereits alle Spiegel beschlagen. Schnell zog ich mich wieder an und föhnte mein nasses Haar. Das warme Wasser hatte die Müdigkeit in mir hervorgerufen und ich war froh, als meine Haare endlich trocken waren und ich das Bad verlassen konnte. Auch wenn Nate noch sauer war, würde er mich mit ihm in einem Bett schlafen lassen. Um genau zu sein war es sowieso mein Bett und ich würde darin schlafen. Wenn, dann müsste er auf dem Sofa die Nacht verbringen. Meine Müdigkeit saß mir in den Knochen, aber ich wollte noch wissen, wieso Shawn mich so oft angerufen hatte. Ich tapste also die Treppen herunter und nahm mein Handy vom Küchentisch. Shawn hatte nicht versucht, mich erneut zu erreichen. Doch eine Benachrichtigung auf dem Bildschirm zeigte mir, dass er mir eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter hinterlassen hatte.
Ich klickte auf die Nachricht und legte mir das Handy ans Ohr.

"Hey... Lyra. Du kannst gerade nicht. Aber...bitte!", sagte Shawn panisch, ehe er von einem Schluchzen unterbrochen wurde,"Ich.. Verdammt ich kann nicht mehr." Er atmete so heftig ein uns aus, dass ich es hören konnte. "Ich...ich glaube ich habe eine Panikattacke..Ich kann nicht atmen und ich", erneut begann er zu schluchzen. "Kannst du vorbeikommen? Lyra, bitte, meine Eltern und Aaliyah sind nicht da und ich brauche dich", flehte Shawn.

Abrupt endete die aufgenommene Nachricht. Hastig sah ich nach, ob er noch eine Nachricht hinterlassen hatte, aber es war die einzige gewesen.
"Scheiße", fluchte ich leise. Der Anruf war über eine Stunde her gewesen und der Gedanke, dass Shawn allein zu Hause gewesen war und eine Panikattacke gehabt hat oder immer noch hatte, machte mich fertig. Ohne überhaupt nachzudenken, griff ich nach meinen Schlüsseln, schlüpfte eilig in Jacke und Schuhe und ging schnell in die Garage und stieg ins Auto. Am liebsten wäre ich mit 100km/h durch die Straßen gerast, aber da es erst geschneit hatte, zwang ich mich langsam und sicher zu fahren. Nervös trommelte ich mit den Fingern auf das Lenkrad. Der Weg kam mir ewig vor, doch als ich endlich da war, parkte ich das Auto in Shawns Einfahrt, stieg aus und rannte förmlich zur Tür. Ich drückte die Klingel erst einmal, doch als nach mehreren Sekunden niemand öffnete,  klingelte ich ein zweites und drittes Mal. Endlich sah ich, wie im Gang ein Licht angemacht wurde. "Lyra", sagte Shawn erleichtert als er mich erblickte. Ohne ein weiteres Wort fiel ich ihm um den Hals. "Shawn."
Ich löste mich von ihm und musterte sein Gesicht. Seine Augen waren immer noch etwas geschwollen und seine Nase war rot vom Weinen.
"Ist alles okay? Was war los?", wollte ich besorgt wissen.
"Ist schon gut..Ich hatte nur Panik... irgendwie." Er machte einen Schritt zur Seite, um mich hereinzulassen. "Ich hätte nicht anrufen sollen. Tut mir Leid."
"Shawn. Du musst dich nicht entschuldigen!"
Er zuckte mit den Schultern, kratzte sich am Hinterkopf und lief ins Wohnzimmer. Langsam folgte ich ihm. Ich war schon länger nicht mehr hier gewesen, aber es sah alles noch so aus wie damals.
"Was war los?", fragte ich nach. Shawn ließ sich aufs Sofa fallen. "Ich weiß auch nicht. Ich hatte auf einmal einfach Panik."
Ich nickte verständnisvoll. "Passiert dir das öfter?" Er schwieg kurz ehe er antwortete. "Ja...Seitdem ich irgendwie..naja..ein bisschen bekannter geworden bin. Vielleicht liegt es am Druck oder so."
"Hast du schonmal mit jemandem darüber geredet?" Ich durchbohrte ihn mit besorgten Blicken.
"Nein. Aber normalerweise war ich auch nie alleine, als es passiert ist. Es war noch nie so schlimm wie heute", erklärte er.
"Vielleicht solltest du mal mit jemanden reden, Shawn, das könnte wirklich helfen",schlug ich vor und lächelte ihm zu.
Er nickte: "Ja, vielleicht."
Es entstand eine kurze Stille. "Wo sind deine Eltern und Aaliyah überhaupt?", fragte ich um das Schweigen zu brechen.
"Kurzurlaub übers Wochenende", erklärte er kurz.
Shawn saß in sich eingesunken auf dem Sofa und starrte mit leeren Blick auf den schwarzen Fernsehbildschirm. Voller Sorge betrachtete ich ihn von der Seite.
"Das wird schon wieder, okay?" Sanft strich ich ihm mit der Hand über den Arm. Er sah auf, warf erst einen Blick auf meine Hand, die ihn berührte und schaute mir dann ins Gesicht. "Okay." Er lächelte schwach und legte seine Hand auf meine, drückte sie kurz und ließ mich dann wieder los.
"Ich hab dich vermisst, Lyra",sagte er nüchtern.
"Ich hab dich auch vermisst",gab ich überrascht zu. Mir war nicht bewusst gewesen, dass ich ihn wirklich vermisst hatte.

Tides [german] Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt