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"Soll ich was zu Essen machen?", fragte Nate und drückte mir einen Kuss auf die Stirn, ehe er sich vom Sofa erhob.
"Ist das überhaupt eine Frage?", erwiderte ich grinsend und streckte meinen müden Glieder. Nate machte sich auf in die Küche, doch ich nahm mir noch etwas Zeit. Mein Blick wanderte zu den Bildern an der Wand. In den letzten Monaten hatte sich im Haus viel verändert. Ich hatte viele der Sachen meiner Eltern und die von Cami aussortiert und gespendet oder weggeworfen. Es hatte eine Weile gedauert, aber ich war bereit dazu gewesen und es hatte sich irgendwie befreiend angefühlt. Und nun war bereits das zweite Jahr seit dem Unfall vergangen. Heute war der zweite Todestag und ich hatte mir extra eine Auszeit von der Uni genommen, um zu Hause zu sein und das Grab zu besuchen. Nate hatte sich sofort bereit erklärt, mit mir mitzufahren, um mir moralische Unterstützung zu bieten und ich war ihm unendlich dankbar dafür. Nachdem wir am College für einige Zeit wirklich nur gute Freunde gewesen waren, mussten wir uns irgendwann eingestehen, dass wir doch etwas füreinander empfanden und waren vor fast einem Jahr zusammengekommen. Vielleicht war es zu früh, aber wir wohnten sogar in einer kleinen Wohnung in der Nähe des Campus zusammen.
Ich warf einen letzten Blick auf ein altes Familienfoto, schob die traurigen Gedanken beiseite, und folgte Nate in die Küche. Er war auf das konzentriert was in der Pfanne brutzelte und ich stellte mich hinter ihn und schlang meine Arme um seinen nackten Oberkörper. Mein Gesicht drückte ich sanft in die warme Haut und atmete den vertrauten Geruch ein.
"Hey, so kann ich nicht kochen", beschwerte er sich leise und drehte sich um, um mich anzulächeln.
"Aber ich will kuscheln", jammerte ich und machte einen Schmollmund.
"Du bist süß, wenn du verzweifelt bist." Nate küsste mich und drehte sich dann wieder dem Essen zu. "Und außerdem haben wir den ganzen Tag schon nichts anderes getan."
Ich setzte mich auf die Theke. "Na und?"
Ich hörte Nate leise lachen und musste ebenfalls lächeln. "Und wir haben noch ein paar Tage Zeit, bevor ich zurück zur Uni fahre." Ich gab ein immer noch unzufriedenes Geräusch von mir, sagte aber nichts mehr. Nate kochte uns chefkochmäßig Fischstäbchen mit Reis, aber da wir seit dem Frühstück nichts mehr gegessen hatten und es draußen bereits dunkel war, machte es uns beiden nichts aus.
Das Essen verbrachten wir schweigend und auch danach räumten wir das dreckige Geschirr leise in den Geschirrspüler. Wir hatten heute nichts körperlich anstrengendes gemacht, aber der Tag war eine emotionale Achterbahnfahrt für mich gewesen. Und auch wenn ich den bereits die Hälfte des Tages damit verbracht hatte, mit Nate auf dem Sofa zu liegen, wollte ich nichts anderes tun.
"Willst du ins Bett?", fragte Nate, nachdem ich ein ausgiebiges Gähnen von mir gegeben hatte.
"Nein, noch nicht. Es ist gerade mal Acht", erwiderte ich und lächelte ihn müde an.
"Aber du bist müde", protestierte er und zog mich in eine sanfte Umarmung. Ich versank in seinen starken Armen. "Aber ich will noch nicht schlafen."
"Na schön."
Nate ging zum Regal mit den DVDs, nahm eine heraus, legte sie ein und winkte mich zu sich aufs Sofa. "Was schauen wir?"
Er zuckte mit den Schultern und grinste kindisch. "The Incredibles", brachte er stolz hervor und ich verdrehte lachend die Augen. Ich kuschelte mich in eine Decke, während Nate den Film einlegte und sich dann wieder zu mir gesellte. Obwohl ich gehen die steigende Müdigkeit ankämpfte, fiel es mir immer schwerer mich auf den Film zu konzentrieren und bald schon war es beinahe unmöglich, meine Augen weiterhin offenzuhalten. Auch Nate schien es so zu gehen, denn sein Atem wurde immer langsamer, und als ich einen kurzen Blick auf ihn warf, waren seine Augen geschlossen. 

Das Klingeln der Haustür riss mich aus meinem leichten Schlaf. Verwundert rieb ich mir die Augen und sah auf die Uhr: halb 10. Nate war ebenfalls aufgewacht und blickte mich fragend an.
"Wer ist das?", wollte er wissen. "Absolut keine Ahnung", murmelte ich schulterzuckend und erhob mich, um die Tür zu öffnen. Doch Nate drückte mich sanft zurück aufs Sofa. "Ich geh schon." Er lächelte mich kurz an und machte sich dann auf den Weg zur Tür. Um zu hören, wer geklingelt hatte, pausierte ich den Film und lauschte den Geräuschen.
"Kann ich dir weiterhelfen?",hörte ich Nate leise fragen. Wer auch immer geantwortet hatte, war männlich, aber ich hatte weder verstanden, was er gesagt hatte, noch die Stimme identifizieren können. "Ich denke nicht, dass du sie sehen kannst. Kennt sie dich überhaupt?"
Neugierig stand ich auf und ging aus dem Wohnzimmer in den Flur. Ich musste nichtmal bis zur Tür laufen, um die Person zu erkennen. "Shawn?", fragte ich ungläubig und stellte mich neben Nate. "Hey", erwiderte er trocken, doch Erleichterung und Freude flackerten in seinen Augen auf.
"Was tust du hier?" Ich musterte ihn. Seit unserer Trennung hatten wir uns nicht ein einziges Mal gesehen. Er trug sein braunes Haar immer noch so wie früher, doch es war etwas länger und lockiger. Seine Augen trugen immer noch denselben schelmischen Glanz in sich, auch wenn er momentan verwirrt und ungläubig zwischen mir und Nate, der immer noch kein Oberteil anhatte, hin und her sah.
"Ich dachte, du könntest heute vielleicht ein bisschen Gesellschaft gebrauchen", erklärte er und schob seine Hände in seine Hosentaschen. "Aber wie ich sehe, hast du die ja schon", fügte er mit einem leicht abgeneigten Blick zu Nate hinzu. Für einige Sekunden war ich zu perplex, um zu antworten.
"Wir sind zusammen, er ist nicht irgendein Typ, den ich mir geangelt habe", brachte ich hervor und hatte plötzlich das Gefühl, mich vor Shawn zu rechtfertigen zu müssen.
"Das ist... schön für euch", sagte er mit einem verbitterten Lächeln auf den Lippen.
"Ja." Für einen Moment blieb er noch unschlüssig stehen, ehe er einige Schritte nach hinten machte.
"Man sieht sich", murmelte er und stapfte davon. Nate warf die Tür hinter ihm zu und hob fragend eine Augenbraue. Ich zuckte nur mit den Achseln und folgte ihm seufzend zurück ins Wohnzimmer. Ich hatte eine Menge zu erklären. 

Tides [german] Where stories live. Discover now