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Die ganze Fahrt über starrte ich wütend auf mich selbst auf die Straße und umklammerte das Lenkrad krampfhaft. So schön wie es auch gewesen war, war es vermutlich der größte Fehler gewesen, den ich jemals gemacht hatte.
Jetzt im Nachhinein betrachtet, fragte ich mich, wieso ich es überhaupt zugelassen hatte. Ich hätte einfach Shawn wegstoßen sollen, nach Hause fahren müssen und Nate von den Kuss erzählt, denn er war ja von Shawn ausgegangen und ich hatte ihn sofort weggestoßen. Dann hätte es vermutlich einen Streit gegeben, der damit endete, dass ich Nate versprach Shawn nicht wieder zu treffen und das Problem wäre gelöst. Aber erbärmlich wie ich war, hatte ich mich auf Shawn eingelassen. Das hatte ich jetzt davon.
Ich wusste nicht, ob ich Nate davon erzählen sollte. Ich meine, es wäre das Ende unserer Beziehung, schließlich hatte ich ihn betrogen. Und Nate verdiente die Wahrheit, das tat er wirklich. Doch ich würde Shawn wahrscheinlich tatsächlich nicht wieder sehen und es wäre so einfach es einfach hinter mir zu lassen und mich fortan auf das Leben mit Nate zu konzentrieren.
Ich parkte das Auto in dem Parkhaus des mehrstöckigen Hauses, in dem unsere Wohnung war und zog müde den Koffer aus dem Kofferraum.
Leise schloss ich die Tür auf, um Nate nicht zu wecken und schlüpfte aus meinen Schuhen und meiner Jacke.
"Hey", begrüßte mich eine bekannte Stimme so laut und plötzlich, dass ich einen Aufschrei unterdrücken musste und heftig zusammenzuckte. Nate stand mit strahlendem Lächeln hinter mir. "Hey." Ich wollte ihm ein genauo strahlendes, glückliches Lächeln zurückgeben, doch das was ich zustande brachte, sah wahrscheinlich eher sehr gezwungen aus. Er kam zu mir und nahm meine Gesicht in seine Hände, ehe er mich sanft küsste. Fast schon aus Reflex wollte ich zurückzucken, ließ den Kuss dann aber über mich ergehen.
"Was riecht hier so gut?", fragte ich, um den Kuss zu beenden, da sich die Erinnerungen an gestern Nacht in meinem Gehirn festgesetzt hatten. "Ich dachte du bist bestimmt hungrig, wenn du nach Hause kommst, also hab ich Frühstück gemacht", erklärte Nate, immer noch breit grinsend und anscheinend überglücklich. In diesem Moment errinerte er mich fast ein bisschen an einen kleinen Welpen der erwartungsvoll mit dem Schwanz wedelte und sich irgendeine Art von Lob erhoffte.
"Nate... ich",jetzt oder nie, "Ich hab dich vermisst."
Er zog mich in eine Umarmung und küsste zärtlich meinen Scheitel. "Ich dich auch, Lyra."
Ich folgte ihm in die Küche und sah zu, wie er mir ein Spiegelei auf den Teller legte. Ich hatte mich dazu entschlossen, es Nate nicht zu sagen. Es gab für ihn keine Möglichkeit es herauszufinden, außer es durch mich zu erfahren. Und es war eine einmalige Sache gewesen. Einmal und nie wieder. Wirklich nie, nie wieder.

Die nächsten Tage versuchte ich mich normal zu verhalten. Und anscheinend war ich gut darin, denn Nate schien nichts zu bemerken. Auch wenn mich Nates Berührungen noch extrem an meine gemeinsame Nacht mit Shawn erinnerten und ich mich somit unwohl fühlte, wenn er mich küsste oder wenn wir miteinander schliefen, verbarg ich meine Gefühle. Es würde besser werden, ich durfte nur nicht ständig daran denken. Ich konzentrierte mich einfach auf die Vorlesungen, verbrachte noch mehr Zeit als gewöhnlich hinter den Lehrbüchern und traf mich oft mit Erin. Sie wusste nichts davon, dass ich Shawn wiedergetroffen hatte und es war eine gute Möglichkeit für mich, nicht ständig mit Nate in einer Wohnung sein zu müssen.
"Hast du eigentlich Shawn nochmal getroffen?", fragte Nate am Samstagabend beim Abendessen. Ich wurde so nervös, dass ich mich prompt an einer Tomate verschluckte. "Alles okay?" Nate sah mich belustigt an, während ich keuchend nach Luft schnappte und mein Glas Wasser in schnellen Zügen leerte. Ich nickte und klopfte mir auf die Brust, ehe ich antwortete: "Natürlich nicht. Ich weiß, dass du nicht viel von ihm hältst und ich wollte mich nicht hinter deinen Rücken mit ihn treffen." Nate schien sehr zufrieden mit meiner Antwort zu sein und schob sich eine Gabel Nudeln in den Mund. "Danke. Er hat dir zwar durch eine harte Zeit geholfen, aber er ist mir einfach nicht geheuer." Ich nickte verständnisvoll, goss mir neues Wasser ins Glas und wechselte dann schnell das Thema: "Könntest du mir nachher nochmal ein paar der Dinge erklären, die ihr in der Zeit besprochen habt, in der ich weg war? Ich hab manches immer noch nicht hundertprozentig verstanden." Es war eine Lüge, ich hatte mich so intensiv damit beschäftigt, dass ich es wahrscheinlich besser verstand als Nate, obwohl ich die Vorlesungen verpasst hatte, aber es lenkte von Shawn ab und gab uns eine Beschäftigung für den heutigen Abend. "Natürlich, Baby. Mach ich doch gerne."

Nate war gerade dabei, mir irgendetwas zum 3. Mal zu erklären, da unsere Meinungen, zur Richtigkeit seiner Erklärungen auseinandergingen und er mir beweisen wollte, dass er Recht hatte, als mein Handy begann zu Klingeln.
"Kannst du kurz warten?" Nate nickte zur Antwort und ich erhob mich vom Sofa, um mein Handy aus dem Schlafzimmer zu holen.
In der Sekunde, in der ich sah, wer mich anrief, begann mein Herz augenblicklich schneller zu schlagen. "Shawn?", beantwortete ich den Anruf mit zitternder und leiser Stimme.
"Hey", erwiderte er ebenso leise und schuldbewusst.
"Ich hab dir gesagt, wir sollten uns nicht mehr wiedersehen", zischte ich uns Telefon und warf einen misstrauischen Blick in Richtung Tür. "Naja, theoretisch sehen wir uns ja auch nicht."
"Du weißt, was ich meine."
"Okay. Aber hör mal, ich wollte mich entschuldigen. Ich hab den ersten Schritt gemacht und das tut mir unfassbar Leid." Es hörte sich tatsächlich nach einer ehrlich gemeinten Entschuldigung an, und auch wenn ich genauso wie er Schuld war, kochte die Wut weiterhin in mir.
"Für dich hat das vielleicht keine Konsequenzen aber ich bin in einer verdammten Beziehung", wütete ich. "Was hast du dir dabei gedacht, mich einfach zu küssen?"
"Ich weiß, deswegen entschuldige ich mich ja auch. Und es war einfach...Ich hab mich auf einmal an die schöne Zeit mit dir erinnert und hab mich so nach deinen Berührungen gesehnt."
Ich seufzte frustriert. "Such dir das nächste Mal eine Frau aus, die nicht vergeben ist, wenn du Spaß brauchst."  Er schwieg am anderen Ende.
"Aber so Leid es mir auch tut, hättest du mich nicht wenigstens wecken können, um dich zu verabschieden?", brachte er nun heraus und klang dabei tatsächlich verletzt. Ich lachte ungläubig. "Ich weiß ich hab kein Recht dazu, aber du hast mir wirklich weh getan damit... Und ich will nicht, dass wir uns nie wiedersehen, du bist meine beste Freundin." Auch wenn er es nicht sehen können, zog ich die Augenbrauen hoch.  "Komm schon, bis vor 2 Wochen hatten wir noch nichtmal Kontakt."
"Und außerdem schläft mein mit seiner besten Freundin nicht", fügte ich flüsternd hinzu.
"Lyra, ich weiß es war falsch, aber jetzt wo wir uns wieder verstehen will ich dich auch wieder sehen, wenigstens ab und zu."
Ich schüttelte den Kopf energisch. "Ich denke, das ist keine gute Idee. Das war eine einmalige Sache."
"Dabei stimme ich dir auch vollkommen zu, ich meinte als Freunde."
Ich war kurz davor, einzuknicken und etwas wie "Ich überleg es mir" zu antworten, aber Nate streckte seinen Kopf ins Zimmer und ich deutete ihm noch kurz zu warten und er ging wieder.
"Okay Luke, ich muss jetzt auflegen, ich lerne gerade eigentlich mit Nate", sagte ich extra laut und wartete nichtmal mehr Shawns Antwort ab, bevor ich auflegte. Ich warf das Handy aufs Bett und ging wieder zu Nate.
"Wer war dran?",fragte er neugierig. "Oh", winkte ich ab. "Nur Luke."

Tides [german] Where stories live. Discover now