23 - Von besonderen Menschen und Tränen

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Ich sitze auf dem Fenstersims in meinem kleinen Gästezimmer, das Mrs. Covault mir gegeben hat und sehe aus dem Fenster, als es sanft an der Tür klopft und Elliot den Raum betritt.

„Da ist ein Mann unten, der dich sprechen möchte", sagt er leise und ich schrecke auf. Daniel! Da muss Daniel sein!

„Ich komme sofort", antworte ich aufgeregt und springe auf. Hektisch renne ich ins Bad und schaue in den Spiegel, um zu überprüfen, ob ich auch nicht allzu heruntergekommen und kraftlos aussehe. doch zu meiner Überraschung hält es sich in Grenzen, ich sehe sogar einigermaßen frisch aus. Die Tage bei Elliot, Mrs. Covault und ihren verrückten Gästen scheinen mir wirklich gut getan zu haben. Meine Wangen sind ein wenig rosiger geworden und zugenommen habe ich auch, was bei den Massen an Essen, die meine Gastgeberin uns täglich auftischt aber auch nicht verwunderlich ist. Die letzten Tage sind wohl die verrücktesten meines Lebens gewesen. Mrs. Covault ist Elliots Großmutter, bei der er seit schon vier Jahren wohnt, das seine Eltern tragischerweise ums Leben gekommen sind. Sein Vater starb auf merkwürdige Weise: Ein Baum wurde eines Nachts bei einem Sturm umgerissen und landete auf dem Haus des Nachbarn. Dort lösten sich einige Ziegel, von denen einer Elliots Vater auf den Kopf fiel, als er seinem Nachbar am nächsten Morgen beim Aufräumen helfen wollte. Daraufhin stürzte er so unglücklich von der Leiter, dass er mit dem Nacken auf der Kante des offenbar sehr stabilen Gartenzauns landete und sich das Genick brach. Elliots Mutter hingegen starb knappe zwei Monate später, als sie etwa drei Tage nach dem Tod ihres Mannes auf ein Spielzeugauto ihres Sohnes trat, das unglücklicherweise vor der Treppe herum lag. Sie fiel und stürzte die Treppe herunter, brach sich die Wirbelsäule und lag einen Monat im Koma. Als sie zum Erstaunen aller Ärzte erwachte, war sie von der Hüfte herunter gelähmt. Diesen Zustand und das Leben als Witwe hielt sie selbst zum Wohl ihres Sohnes nicht aus, schickte ihn zu der Mutter ihres verstorbenen Mannes und erschoss sich mit dem Revolver ihres Vaters. Mrs. Covault hat mir das noch an dem Abend meiner Ankunft erzählt, als wir beide dabei zu sahen, wie Elliot selig mit seinen Weihnachtsgeschenken spielte.

Die anderen Gäste hier sind die wohl merkwürdigsten Menschen, die ich je getroffen habe.

Albert ist ein liebenswürdiger Mann mit immer etwas verschleierten Blick und ein paar sonderlichen Angewohnheiten. So putzt er beispielsweise vor jedem Essen gründlich seine Schuhe, weswegen wir immer bis zu zwanzig Minuten auf ihn warten müssen. Die Schuhe verteilt er dann unordentlich in seinem Zimmer, doch nach dem Essen sortiert er sie in einer akribischen Genauigkeit auch Größe, Höhe, Farbe und Form, dass man meinen könnte, er sei ein Schuhfanatiker. Ist er aber nicht, denn die Schuhe zieht er nie an. Im Haus läuft er barfuß herum und wenn er mal ein paar Schritte hinaus in den Garten geht, zwingt Mrs. Covault ihn dazu mindestens Wollsocken anzuziehen. Oft erzählt er von Dingen, die nur er sieht oder von Orten, die er mal besucht hat, die es aber ganz sicher nicht gibt. Doch Elliot liebt seine Geschichten und Albert selbst liebt sie auch und freut sich jedes mal wie ein Kind, wenn jemand sich dafür interessiert. Mr Spencer betrachtet ihn dann immer missbilligend und schürzt die Lippen.

Mr Spencer schaut eigentlich immer missbilligend. Er sieht aus wie ein verkniffener Oxford-Professor ohne Humor und mit dauerhafter schlechter Laune. Leider ist er kein Professor sondern gescheiterter Buchhändler, dessen Laden pleite gegangen ist. Mrs. Covault ist seine Tante sechsten Grades und die einzige Familienangehörige, zu der er Kontakt hat. Oder die ihn noch aushält, denn Mr Spencer ist so unsympathisch, dass man keine halbe Stunde mit ihm in einem Raum aushält. Muss man aber auch nicht, denn meistens schließt er sich in seinem Zimmer ein und ließt, anstatt sich mit den „ungebildeten Stümpern", wie er uns gerne nennt, abzugeben. Der Idiot bezeichnet ihn oft als Blödbommel.

Der Idiot ist, gelinde gesagt, ein wenig beschränkt. Mr Spencer nennt ihn gerne „lernbehinderte Amöbe", zum Beispiel wenn ich versuche Dem Idioten das Schnürsenkel binden bei zu bringen, was er mit seinen 23 Jahren immer noch nicht kann. Der Idiot lacht gerne und viel, eigentlich lacht er immer, auch, wenn es gerade unpassend ist. Er kann den Tisch nicht richtig decken, vergisst alles, was man ihm sagt, verlegt seine Sachen überall, weiß nicht, wie man putzt, kocht, Hemden richtig zu knöpft, Kissen bezieht, Glühbirnen rein dreht und wo die Lichtschalter in den Räumen des Hauses sind, hat er immer noch nicht verstanden. Immerhin den Reißverschluss seiner Jacke kann er neuerdings alleine zu machen und lesen und schreiben auch, wenn auch nur stockend. Doch was er wirklich gut kann ist malen und das tut er oft. Er malt Häuser, Bäume, Möbel und mich hat er auch mal gemalt. Aber am liebsten malt er Riesenräder. Die haben es ihm irgendwie angetan.

„Joline?", reißt Elliot mich aus meinen Gedanken und ich schrecke auf.

„Ich komme."

*

Er steht da, mit dem Rücken zu mir und sieht aus dem Fenster im Wohnzimmer. Neben ihm steht Albert, beide schweigen und sehen den Regentropfen zu, die an der Scheibe herunter fließen. Sie bemerken mich nicht, als ich den Raum betrete und ich traue mich nicht, etwas zu sagen, also stehen wir in dem Raum und schweigen.

Irgendwann sagt Albert: „Findest du nicht auch, dass blaue Elefanten viel zu überschätzt werden, Joline?" Ich habe keine Ahnung, woher er weiß, dass ich da stehe, doch es führt dazu, dass Daniel herumwirbelt und mich anstarrt.

„Ja, Albert", bringe ich mühsam heraus, „da hast du vollkommen recht." Ein paar Sekunden sieht Albert mit seinem kindlichen, nachdenklichen Blick zwischen mir und Daniel hin und her und sagt dann: „Ich glaube, ihr müsst mal reden. Diese Aura hier tut dem Porzellan nicht gut." Und damit verschwindet er. Während Daniel ihm verdutzt hinterher sieht, setze ich mich auf das Sofa und schaue Daniel abwartend an.

„Albert ist ein wenig eigen", sage ich schließlich, um ihn wieder auf mich aufmerksam zu machen.

„Wie bist du hier her gekommen?", fragt er und setzt sich neben mich.

„Der Kleine hat mich gefunden und her gebracht. Elliot heißt er." Daniel nickt und wir schweigen.

„Gestern", fängt Daniel an, „kam der erste Bericht im Tagespropheten über Menschen, die während des Krieges unter dem Imperius standen. Ich bin hier, um dir zu sagen, dass ich-" Er unterbricht sich, als die Tür aufgestoßen und Mrs Covault mit einem Tablett mit einer Teekanne und zwei Tassen und Anna, die eine Schüssel mit Keksen trägt, im Schlepptau heran kommt.

„Ich möchte nicht stören", zwitschert sie fröhlich und stört dabei so unglaublich, dass ich am liebsten genervt geseufzt hätte. Als sie und Anna wieder verschwinden setzt Daniel erneut an.

„Ich möchte dir sagen, dass ich dir glaube. Und dass ich dir helfen möchte, mit dem, was du durchstehen musstest, klar zu kommen. Wenn du das annimmst, natürlich." Ich lächle gerührt und Tränen steigen in meinen Augen auf. Tränen der Freude, der Erleichterung und des puren Glücks.


Dreimal Klischee zum Mitnehmen, bitteWhere stories live. Discover now