Teil 2 - Kapitel 30 - Nagel im Auge

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Die Defekte und Fehler des Verstandes sind wie Wunden des Körpers. Auch wenn alles Vorstellbare unternommen wird, um sie zu heilen, Narben werden trotzdem bleiben.
- François de la Rochefoucauld

Harriet

Ich kaue auf einem Stift herum und starre auf das bekritzelte Blatt, das auf meinem Schoß auf einer Unterlage liegt. Meine Zähne graben sich in das Ende des Bleistifts und ich merke, wie das Holz nachgibt. Ich lege den Stift beiseite und seufze leise, knülle das Papier zusammen und stopfe es in meine Hosentasche. Wir sitzen im Flugzeug. Vor ein paar Stunden hat uns Garcia einen Fall vorgestellt. Wir wurden von einer anderen Einheit angefordert und sollen sie bei einem Fall unterstützen. Allerdings haben wir kaum Information zu dem Fall erhalten, was seltsam ist. Normalerweise bekommen wir alle Informationen vorher, doch dieses Mal sollen wir uns vorerst zu einer Besprechung in einem Revier treffen.
Ich sitze alleine. Spencer schläft, glaube ich. Hotch geht ein paar Akten durch, Morgan hört Musik und Alex und JJ unterhalten sich miteinander. Eine Weile starre ich verträumt ins Leere und zucke zusammen, als Rossi mir auf die Schulter tippt. Ich habe nicht bemerkt, dass er sich auf den Platz neben mir gesetzt hat.
"Ist alles in Ordnung?", fragt er.
"Ich weiß nicht", gebe ich zu. "Ich mache mir Sorgen."
"Um Spencer?", fragt er leise.
Ich schüttele den Kopf. "Es ist mein erster Einsatz, seitdem ..."
"Seitdem du angeschossen wurdest und dein Gedächtnis verloren hast", vollendet er den Satz und beäugt mich, um zu sehen, wie ich darauf reagiere.
Ich lasse mir nichts anmerken, obwohl ich daran nicht gern erinnert werde. "Ja, genau."
"Mach dir keine Sorgen", versucht er mich zu beruhigen. "Wir gehen es langsam an. Ich bin für dich da."
Ich küsse ihn auf die Wange und ringe mir ein Lächeln ab. "Danke."
Er stimmt in mein Lächeln ein. "Immer."

Der Flieger landet und wir checken in einem Hotel ein. Bevor wir uns zur Besprechung treffen, essen wir gemeinsam zu Mittag. Im Speisesaal gibt es ein Büffet, das leckeres Essen verspricht. Als wir uns zusammen an einen Tisch setzten, setzt sich Spencer neben mich und ich versuche mir nicht anmerken zu lassen, wie nervös mich das macht.
"Hey", sagt er und nimmt einen Bissen von seinem Auflauf.
"Hey", antworte ich.
Meine Stimme klingt seltsam.
"Harriet", sagt er. "Wie war dein Flug?"
Was soll das? Er ist im selben Flugzeug gewesen.
"Mein Flug war ausgezeichnet, wie ist es dir ergangen?"
Meine Stimme trieft vor Sarkasmus, was Spencer zum Lachen bringt. Auch ich kann mir ein Grinsen nicht verkneifen.
"Schon gut", meint er. "Ich wollte nur Konversation betreiben."
Ich ziehe belustigt die Augenbrauen hoch. Seit Wochen wechselt er kein Wort mit mir und jetzt albern wir herum? Meine Miene wird ernst und auch seine Miene verfinstert sich.
"So funktioniert das nicht", flüstere ich.
Den Salat auf meinem Teller habe ich völlig vergessen. In letzter Zeit weiß ich nicht, wie wir zueinander stehen. Er verunsichert mich mit seiner bloßen Anwesenheit.
"Ich weiß." Er kratzt sich am Hinterkopf. "Vielleicht treffen wir uns nach der Besprechung?"
Ich nicke langsam, obwohl ich ihn am liebsten angeschrien und geschüttelt hätte.

Als wir zum Revier fahren, sitze ich auf dem Beifahrersitz neben David. Auf dem Rücksitz sitzen Derek und Alex.
"Harriet, ist alles in Ordnung?" Rossi wirft mir einen schnellen Blick zu. "Bist du nervös?"
Ich schüttele den Kopf, im Wissen, dass er es aus dem Augenwinkel sehen kann, während er sich auf den Straßenverkehr konzentriert.
"Noch sind wir nicht im Außeneinsatz. Eine Besprechung ist nicht besorgniserregend."
Ich nicke nur.

Als wir ankommen, werden wir von einem Offizier begrüßt und zu dem Raum geführt, in dem die Besprechung stattfinden soll. Keiner von uns weiß, um was es genau geht. Ich setze mich neben JJ an einen großen Tisch. Abgesehen von uns, sitzen zwei Männer und eine Frau an dem Tisch, die ich nie zuvor gesehen habe. Ihre Blicke sind nichtsagend und sie scheinen uns zu mustern, um unsere Fähigkeiten und Kenntnisse abzuschätzen. Plötzlich kommt mir ein ängstigender Gedanke.
"JJ?", flüstere ich. "Kann ich mich an diese Menschen nicht erinnern?"
Sie schüttelt den Kopf. "Nein. Ich kenne sie auch nicht."
Bevor Hotchner sich zu uns an den Tisch gesellt, begrüßt er die Fremden der Reihe nach und schüttelt ihnen die Hand.
"Ich danke Ihnen, dass Sie gekommen sind", beginnt einer der Männer. "Wir haben sie angefordert, weil wir von ihren Fähigkeiten als Team gehört haben und von ihren Leistungen begeistert sind. Vor einer Woche ist es ihnen sogar gelungen, den Mörder zu fassen, der ihre Kollegin angeschossen hat und dafür bekannt war, seinen Opfern ins Auge zu schießen. Bevor der Fall an sie übergeben wurde, haben wir lange nach ihm gesucht."

Spencer

Ich traue meinen Ohren nicht! Hotch hat behauptet, dass der Fall an eine andere Einheit übergeben worden ist! Sie müssen den Fall gelöst haben, als Harriet und ich beurlaubt waren. Warum hat mir niemand etwas erzählt? Wusste Harriet davon? Natürlich lasse ich mir nichts anmerken und sage nichts, um Hotch nicht in den Rücken zu fallen, doch ich werde ihn später darauf ansprechen. Der Mann fährt fort. Ein kleines Schildchen an seiner Brust verrät mir, dass sein Name Caleb Gold ist.
"Wir haben es nun mit einem Fall zu tun, welcher äußerst speziell ist und nur vertraulich behandelt werden darf."
Der andere Mann, Daniel Lodge, und die Frau, Christina Hanson, nicken zustimmend. Sie kommen mir sehr wichtigtuerisch vor.
"Momentan treibt ein Mann sein Unwesen in der Stadt und wir haben Grund zur Annahme, dass er nicht allein arbeitet. Er schaltet seine Opfer gezielt aus."
Jetzt meldet Agent Hanson sich zu Wort. Sie steht auf und wirft ihr blondes Haar schwungvoll nach hinten.

Es ist wahrlich beeindruckend, wie schnell Agent Hanson sprechen kann, ohne Luft zu holen. Sie hat uns den Täter so detailliert beschrieben, dass ich mich frage, wieso sie ihn nicht längst geschnappt haben. Er führt Rituale durch, in denen er Menschen opfert. Allerdings ist unklar, wieso er das tut und wir wurden angefordert, um genau das herauszufinden, damit er gefasst werden kann. Nach einer Weile hat er angefangen das Töten zu genießen, und ist dazu übergegangen, seine Opfer zu foltern, bevor er sie ermordet. Dem letzten Opfer steckten Nägel in den Augen, die er ihm entweder ins Auge gerammt oder mit einer Nagelpistole ins Auge geschossen hat. Er scheint eine gestörte Persönlichkeit zu haben, ist unberechenbar und kennt keine Grenzen. In seinen Augen ist die Opfergabe effektiver, wenn er sie zuvor leiden lässt.

Criminal Minds - Spencer und HarrietWo Geschichten leben. Entdecke jetzt