Teil 2 - Kapitel 27 - Ein (un)klares Gespräch

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Wir alle tragen Masken, und es kommt der Zeitpunkt, an dem wir sie nicht mehr abnehmen können, ohne dabei Stücke unserer Haut mit abzutrennen.
- Andre Berthiaume

Harriet

Ich fahre heute zum Trainingsplatz, um für einen Test zu trainieren. Ich werde geprüft, ob ich weiterhin als Supervisory Special Agent arbeiten kann. Morgan hat sich dazu bereit erklärt, mich beim Training zu unterstützen. Nachdem ich mich umgezogen habe, betrachte ich mich einen Moment im Spiegel. Ich habe viel abgenommen und sehe total knochig aus. Vielleicht kann JJ mir dabei helfen, regelmäßig Sport zu machen und mich ausgewogen zu ernähren. Seufzend zupfe ich an dem Top herum, doch es bringt nichts. Die Perücke ziehe ich nicht auf, sie würde mich beim Sport nur stören. Schminken tue ich mich auch nicht. Erst jetzt fällt mir auf, wie krank ich eigentlich aussehe. Immerhin wachsen meine Haare langsam nach. Wenn ich genau hinschaue, kann ich einen dunkelblonden Ansatz ausmachen.

Ich mache mich auf den Weg und fahre zum Trainingslager. Als ich aus dem Auto steige, erwarten mich Derek, JJ und Spencer bereits. Es wundert mich, dass Morgan sie mitgebracht hat, doch ich lasse mir nichts anmerken und begrüße sie. Als ich Spencer flüchtig in den Arm nehme, sind die Augen der anderen auf uns gerichtet. Offenbar hat er ihnen nicht viel über unsere Beziehung verraten. Spencer erwidert die Umarmung kurz und gibt mich frei. Ich frage mich, woher er weiß, dass ich heute für den Test trainiere. Bestimmt hat Derek es ihm erzählt.
"Was möchtest du machen?", fragt JJ mich und schenkt mir ein aufrichtiges Lächeln.
"Schießen?"
Morgan zieht die Augenbrauen hoch und lacht. "Okay, dann los."
Es ist kein gewöhnliches Fitnesscenter, sondern es wurde für FBI-Agents errichtet. Wir gehen zu einem Schießstand und Derek gibt mir eine Pistole.
"Achte auf den Rückstoß", sagt er.
Der Griff der Waffe fühlt sich vertraut an. Sie liegt schwer und kalt in meinen Händen und ich fühle mich mächtig. Es erschreckt mich, wie sehr mir das Gefühl gefällt. Vor mir ist eine Zielscheibe, die den Oberkörper von einem Mann darstellt. Plötzlich bekomme ich Zweifel. Kann ich schießen? Treffe ich überhaupt die Zielscheibe? Werde ich meinen Job verlieren?
Einatmen. Zielen. Ausatmen. Schießen.
Die Kugel verpasst das Herz um ein paar Zentimeter.
"Das war gut!", ermutigt JJ mich.
"Versuch es noch mal", sagt Morgan.
Ich werfe einen Seitenblick zu Spencer. Es scheint ihn wahrhaftig zu interessieren, ob ich mich daran erinnere, wie man schießt.
Einatmen. Dieses Mal ziele ich auf den Kopf. Ausatmen. Schießen.
Die Kugel trifft den Kopf zwischen die Augen. Ich triumphiere. Morgan lacht vergnügt, Spencer schmunzelt und JJ klopft mir auf die Schulter.
"Streber", flüstert sie mir zu.

Wir üben den ganzen Tag. Es ist wie beim Klavierspielen. Ich brauche ein paar Anläufe, doch es dauert nicht lang und ich habe den Dreh raus. Allerdings geht es nicht ausschließlich um die körperliche Leistung, die im Test verlangt wird, sondern um das Wissen, dass ich mir in den Jahren als Profilerin angeeignet habe. Blöd nur, dass ich vor ein paar Monaten mein Gedächtnis verloren habe und noch nicht alle Erinnerungen an die Oberfläche meines Bewusstseins geschwappt sind. Der Tag hat mir wirklich Spaß gemacht und ich freue mich auf das Date mit Spencer.

Bilder und Szenen prägen sich in mein Gedächtnis ein. Entsetzt stelle ich fest, wie sich Spencer in den letzten Wochen verändert hat. Er hat abgenommen, war länger nicht beim Friseur und er hat dunkle Schatten unter den Augen. Mir war nicht klar, wie sehr er in den letzten Wochen gelitten haben muss. Er hat sich wieder in den schüchternen, zurückhaltenden und unnahbaren Reid verwandelt. Nein, das stimmt nicht.
Ich habe ihn verwandelt. Als er mich abholt, kann ich mich nicht länger zusammenreißen. Heute konnte ich viele Erinnerungen zurückgewinnen.
"Harriet!", sagt er und seine Miene hellt sich bei meinem Anblick auf.
Ich kann ihn nur anstarren. Es geht ihm nicht gut und er versucht sich nichts anmerken zu lassen.
"Alles in Ordnung?", fragt er, als ich ihn nicht begrüße, weil ich in Gedanken versunken bin.
"Es ist wirklich schön dich zu sehen."
Er runzelt die Stirn und ich seufze, weil ich weiß, dass es ein längeres Gespräch werden wird. Ich bitte ihn in die Wohnung und wir setzen uns im Wohnzimmer auf die Couch.
Ich lege meine Hände an seine Wangen und unterdrücke mit Mühe Tränen. Warum bin ich so traurig? Ich erinnere mich kaum an ihn. Und doch zerbricht etwas in mir, als er meine Hände abschüttelt und mir einen verwirrenden Blick zuwirft.
"Dir geht es nicht gut", stelle ich fest.
Spencer schüttelt den Kopf, doch ich lasse ihn nicht zu Wort kommen.
"Sieh dich an!" Ich lege meine Hände erneut an seine Wangen und diesmal lässt er es geschehen. "Sprich mit mir."
"Hör auf damit", sagt er.
Verständnislos starre ich ihn an. Ich verstehe es nicht. Warum ist er so?
"Ich kann das nicht", sagt er und sieht mir jetzt direkt in die Augen.
Einen Moment vergesse ich zu atmen. Damit habe ich nicht gerechnet. Ich halte seinem Blick stand und lasse meine Hände langsam sinken.
Plötzlich wirkt Spencer unglaublich erschöpft. "Warum berührst du mich so? Harriet, du kannst meine Gefühle nicht erwidern. Ich kann nicht so tun, als wäre alles in Ordnung."
Ich denke einen Moment über seine Worte nach. "Spencer, ich habe Gefühle für dich."
Was ist denn nur los mit ihm? Es war doch alles gut zwischen uns?
Er lächelt traurig. "Du musst mir Zeit geben. Vor ein paar Tagen hätte ich alles dafür gegeben ..."
Ich schneide ihm das Wort ab. "Wo liegt das Problem?"
Jetzt glitzern seine Augen und ich ahne Böses. "Ich war kurz davor mir Dilaudid zu verabreichen."

Criminal Minds - Spencer und HarrietWo Geschichten leben. Entdecke jetzt