Teil 2 - Kapitel 21 - Alles neu

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Wenn ich die Wahl habe zwischen dem Nichts und dem Schmerz, dann wähle ich den Schmerz.
- William Faulkner

Spencer

"Deine Eltern sind gestorben, als du ein Kind warst. Danach hast du bei deiner Tante gelebt", erkläre ich.
Sie nickt langsam. Eine Weile herrscht peinliches Schweigen. Es kostet mich Überwindung, ruhig neben ihr sitzen zu bleiben. Ihr Blick wirkt resigniert und ein starkes Gefühl der Trauer überkommt mich. Ich sehe Harriet, doch ich sehe sie nicht; sehe ihren Körper, aber nicht ihre Persönlichkeit. Ich vermisse die Art und Weise, wie sich ihr Gesicht vor Freude verzieht. Ihr unbeschwertes Lachen. Ihr Atem, den ich auf meinem Gesicht spüre, kurz bevor ich sie küsse.
"Willst du dich scheiden lassen?", frage ich.
Zu meiner Überraschung schüttelt sie den Kopf. "Vielleicht kommen meine Erinnerungen zurück."
Harriet mustert mich mit wachsendem Interesse und legt den Kopf schief. Ich frage mich, woran sie gerade denkt. Ich erwidere ihren Blick und wir starren einander einen Moment zu lang in die Augen und ich schaue verlegen weg.
Sie runzelt die Stirn. "Du liebst mich wirklich."
Ich frage mich, wie sie das in meinem Blick gelesen hat.
Meine Stimme ist ruhig. "Ich würde für dich sterben."
Ich verbringe den Rest des Tages mit ihr und fahre sie ins Revier, damit das Team sie sehen kann. Sie wissen, dass sie sich nicht an sie erinnert. Als wir dort ankommen, fühle ich mich seltsam. Am liebsten würde ich zu meinem Apartment fahren, um der Situation zu entfliehen. Wenigstens für ein paar Stunden. Harriet lässt ihren Blick schweifen.

Harriet

Ich sehe fremde Gesichter und lasse mich von einem dunkelhäutigen Mann zu meinem Büro führen, wobei ich darauf achte, dass Spencer an meiner Seite bleibt. Seltsamerweise fühle ich mich in seiner Nähe wohl. Bei ihm bin ich sicher. Auf meinen Schreibtisch liegt eine Akte. Ich nehme sie und blättere darin herum. Das Gesicht eines Mannes sticht mir ins Auge.
Ich renne zur Tür, doch ich bin nicht schnell genug. Sein Zeigefinger betätigt den Abzug. Die Kugel kommt auf mich zu, durchbricht meine Schädeldecke. Mein Kopf schießt nach hinten und ich gehe zu Boden. Die Tür zum Wartezimmer wird aufgerissen. Bewaffnete Männer stürmen herein. Jemand ruft einen Krankenwagen. Dann sehe ich Spencer. Hotch ist bei ihm. Sie kommen auf mich zu, doch ich verliere das Bewusstsein.
Ich zucke zusammen, schiebe die Akte von mir und wirbele herum.
"Du!", sage ich und deute auf einen schwarzhaarigen Mann im Anzug. "Ich erinnere mich an dich. Du bist Hotch!"
Alle Blicke richten sich auf mich. Es ist ein triumphierendes Gefühl, sich an etwas erinnern zu können.
"Ich habe mich daran erinnert, wie mir in den Kopf geschossen wurde", erkläre ich und deute auf Spencer. "Du warst auch da, nicht?"
Er nickt langsam und lächelt traurig. Mir wurde gesagt, dass wir verheiratet sind, doch ich liebe ihn nicht. Wenn ich in sein Gesicht schaue, sehe ich eine fremde Person. Ich will ihn lieben, doch ich tue es nicht. Und ich fühle mich schuldig, weil er alles für mich geben würde. Er ist attraktiv und süß, doch ich kenne ihn nicht. Nicht mehr. Und wie kann ich einen Mann lieben, den ich nicht kenne?

Spencer

Während ich Harriet zum Krankenhaus bringe, werfe ich ihr hin und wieder heimliche Blicke zu. Sie schämt sich für die Glatze und die Narbe, die nicht übersehbar ist.
"Wir könnten dir eine Perücke kaufen", schlage ich vor.
Tatsächlich ist es auch für mich seltsam, sie ohne ihr langes, dickes Haar zu sehen.
Sie lächelt schwach. "Mal sehen."

Ein paar Stunden später können wir wieder gehen. Der Arzt ist zuversichtlich, dass Harriet sich bald an alles erinnern wird. Was das angeht, bin ich nicht so positiv gestimmt. Ich werde ihren Gesichtsausdruck nie vergessen, als ich sie das erste Mal besucht habe, nachdem sie aufgewacht ist.
"Was möchtest du machen?", frage ich sie, nachdem wir das Krankenhaus verlassen.
Irgendwie fühle ich mich in ihrer Gegenwart seltsam. Nein, nicht seltsam. Nutzlos. Ja, das passt besser. Harriet zuckt mit den Schultern. Ich habe eine Idee.

Harriet

Spencer führt mich zu einem kleinen Café. Als wir uns setzten, kommt ein junger Kellner zu uns und Spencer bestellt mir einen Kakao.
"Hier habe ich dir den Heiratsantrag gemacht", sagt er.
Dieser Satz macht mich traurig. Ich kann mir nicht vorstellen, wie er sich fühlen muss. Er hält den Kopf gesenkt, starrt auf seine Füße und fährt sich geistesabwesend durch die Haare. Seltsamerweise finde ich die Geste anziehend. Ich nippe an dem Kakao und lasse mich in die Stuhllehne fallen. Das ist unglaublich. Ich bin mit einem Mann verheiratet, den ich nicht kenne und habe einen Job, den ich nicht ausüben kann. Wer bin ich?

Das Mädchen blickt mich schockiert an. Ihre Augen sind weit aufgerissen und ihr Mund steht offen. Wie war ihr Name? Candy? Casey? Ich weiß es nicht mehr. Ich versuche mich an sie zu erinnern, doch da ist nichts.
"Ich erkenne sie nicht."
Ich ernte enttäuschte Blicke.
"Ich bin deine Cousine", sagt sie.

Ihre Stimme klingt belegt. Es ist schrecklich, dass alle wegen mir traurig sind, obwohl ich sie nicht kenne. Auch Hotch kenne ich nicht, obwohl ich mich an ihn erinnert habe. Ich erinnere mich an seinen Namen, mehr nicht. Ich kann ihm keine Eigenschaften zuordnen.
"Man hat mir erzählt, dass wir zusammen aufgewachsen sind."
Das Mädchen nickt und lächelt traurig. "Wir sind wie Schwestern."
H

ilfesuchend wende ich mich an Spencer. Offenbar scheint das Mädchen von meinem bloßen Anblick von Sekunde zu Sekunde trauriger zu werden.
"Habt ihr Hunger?", fragt er und ich folge ihm dankbar in die Küche.
Spencer lacht, was ich unangebracht finde, doch dann merke ich, dass sein Gesichtsausdruck gequält wirkt.
"Ich kann nicht kochen. Normalerweise kochst du."
"Ich könnte es versuchen."
Habt ihr in einer fremden Wohnung, und mit zwei fremden Menschen in einer Küche gestanden und gekocht? Fühlt sich genauso komisch an, wie es sich anhört. Während Spencer konzentriert die Suppe im Topf umrührt, kommt ein vertrautes Gefühl in mir auf. Ich möchte seine Hand nehmen und seine Finger mit meinen verschränken, doch ich tue es nicht.

Ich nippe an meinem Weinglas. Spencer sitzt neben mir auf der Couch und liest ein Buch. Seine Anwesenheit macht mich nervös. Vermutlich existiert der Teil von mir, der Gefühle für Spencer hat, noch immer unterbewusst. Es ist so verwirrend! Warum blättert er so schnell die Seiten um? Liest er das Buch überhaupt?

Criminal Minds - Spencer und HarrietWo Geschichten leben. Entdecke jetzt