Teil 2 - Kapitel 29 - Versuch es

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Wären wir wir selbst, wären wir nicht normal, denn es ist nicht normal, man selbst zu sein.
- Unbekannt

Harriet

Ich liebe dich. Das waren seine Worte. Ich liebe dich. Er will momentan nur mit mir befreundet sein, aber er liebt mich. Ich kann es noch immer nicht glauben; will es nicht glauben. Man liebt seine Freunde nicht. Zumindest nicht auf diese Art und Weise.
Liebe. Das ist ein so starkes Wort. Gerade Spencer wählt seine Worte mit bedacht und benutzt diese Worte nur selten, damit es etwas Besonderes bleibt. Und das ist es. Jedenfalls habe ich das so in Erinnerung.
"Sag mir, dass du mich nicht liebst, dann sind wir einfach nur Freunde und du musst dir nicht solche Sorgen machen. Sag es einfach. Ich komme damit schon klar."
Noch im selben Moment, in dem die Worte meine Lippen verlassen, weiß ich, dass sie gelogen sind.
Spencer schiebt mich ein kleines Stück von sich, damit er mir in die Augen sehen kann. "Das kann ich nicht sagen."
Ich kneife die Augen fest zusammen und versuche die Erinnerung festzuhalten, und die Emotionen, die ich damals verspürt habe. Ich war so aufgeregt und nervös und ... glücklich. Ich war so unglaublich glücklich. Ich erinnere mich auch daran, dass Mareen kurz vor diesem Ereignis den Tod von Casey vorgetäuscht hat. Da wusste ich, dass es zwischen ihr und mir nie so werden würde, wie es mal war.
Jetzt wünsche ich mir, bei Reid zu sein, und dass ich mein Gedächtnis nie verloren hätte.

Mit zitternden Händen öffne ich die Autotür und steige aus dem Wagen. Eine Woche ist vergangen, seitdem ich mit Spencer telefoniert habe. Heute ist unser erster gemeinsamer Arbeitstag, seitdem er beurlaubt worden ist. Während ich den Parkplatz überquere, weiß ich nicht, ob ich mich zurück ins Auto setzen und wegfahren, oder rennen soll, damit ich schneller bei ihm bin.

Spencer

Als Harriet das Gebäude betritt und sich an ihren Schreibtisch setzt - der nicht unweit von meinem Arbeitsplatz entfernt ist -, kann ich den Blick nicht von ihr abwenden. Es wundert mich, dass sie nicht versucht, ihre Nervosität zu verbergen. Mein Herz schlägt schneller, als sie meinen Blick kurz erwidert, doch ich kann ihren Anblick kaum ertragen. Ich versuche Papierkram zu bearbeiten, doch ich bin mit den Gedanken ganz woanders.
Harriet fährt mir mit einer Hand durchs Haar. Es ist ein überwältigendes Gefühl, ihr so nah zu sein. Ich bin aufgeregt, nervös, glücklich - alles zusammen. Ich beuge mich zu ihr, die Lippen ganz nah an ihrem Ohr.
"Ich habe ständig das Bedürfnis, dich bei mir zu haben", sage ich leise. "Wenn wir uns nicht sehen, werde ich nervös."
Ich denke an die letzten Wochen zurück, besonders an die Zeit, die ich mit Harriet verbracht habe. Ich lehne mich ein Stück zurück, um ihr ins Gesicht sehen zu können. Ihre Lippen sind leicht geöffnet, ihre Augen funkeln erwartungsvoll. Ich könnte sie stundenlang einfach nur ansehen und es würde mir nicht langweilig werden. Mir liegt etwas auf der Zunge und es bahnt sich einen Weg aus meinem Mund. Ich halte es nicht zurück.
"Ich liebe dich, Harriet."
Ihre Augen weiten sich, dann breitet sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht aus. Es fühlt sich richtig an. Sie fühlt sich richtig an. Harriet, was machst du nur mit mir? Sie schmiegt sich an mich und ich vergrabe das Gesicht in ihren Haaren, nehme ihren Duft ganz bewusst wahr.
"Ich liebe dich auch", flüstert sie.
Ich schüttele den Kopf und reiße mich aus der Erinnerung. Wahrscheinlich kann sie sich nicht mal daran erinnern.

Als ich in meinem Apartment bin und mir etwas bequemes anziehe, klingelt es. Verwirrt öffne ich die Tür und starre in Caseys graue Augen.
"Spencer", sagt sie und zieht mich in eine Umarmung, die ich etwas unbeholfen erwidere.
"Was machst du hier?", frage ich und löse mich schnell von ihr.
Sie schnalzt mit der Zunge. "Danke, es ist auch schön dich zu sehen."
"Möchtest du reinkommen?"
Sie nickt und schiebt sich an mir vorbei. Ich habe vergessen, wie temperamentvoll sie sein kann.
"Wir müssen reden", sagt sie, setzt sich auf meine Couch und schlägt demonstrativ die Beine übereinander.
Ich nicke und ziehe kurz die Augenbrauen hoch, ehe ich mich zu ihr setzte. "Wenn du schon zu mir gefahren bist, muss es wichtig sein."
Sie nickt. "Es geht um Harriet."
Ich lache auf und schüttele den Kopf. "Natürlich geht es um Harriet. Hat sie dich geschickt?"
Allmählich nervt es mich, dass Harriet das einzige Gesprächsthema zu sein scheint, über das man sich mit mir unterhalten kann. Jedes Mal, wenn ich sie sehe, an sie denke oder auch nur ihren Namen höre, zerbricht etwas in mir.
Casey schnauft. "Natürlich nicht!"
Einen Moment lang sieht sie wirklich wütend aus, doch dann hat sie sich wieder im Griff. Mit einem Mal ändert sich ihre Haltung und ihr Gesichtsausdruck wird traurig. Anstelle des gespielten Selbstbewusstseins, offenbart sie ihre wahren Emotionen.
"Ich mache mir Sorgen", gesteht sie. "Du und Harriet, ihr könnt nicht so auseinandergehen. Sie gewinnt ihre Erinnerungen zurück und möchte bei dir sein, doch du gibst ihr keine Chance!"
Ich lege mir Worte im Kopf zurecht, um ihr die Situation bestmöglich zu erklären. "Es ist schon etwas komplizierter. Es geht nicht nur darum, ob wir etwas füreinander empfinden." Warum fällt es mir so schwer, dieses Gespräch zu führen? "Vielleicht soll es einfach nicht sein."
Plötzlich schießen Casey Tränen in die Augen und es sieht so aus, als hätte sie einen Kloß im Hals. Toll gemacht, Reid.
"Du liebst sie nicht?", fragt sie.
"Casey, du weißt, dass ich darüber nicht reden kann."
Momentan bin ich auf dieses Thema nicht gut zu sprechen. Es fällt mir schwer, solch intime Gespräche zu führen. Es ist so, als würde sich eine Blockade in meinem Kopf bilden.
Sie schüttelt den Kopf und wiederholt ihre Frage, bis ich sie doch beantworte.
"Natürlich."
"Wo liegt dann das Problem?"
Wie kann ich es nur erklären?
"Jedes Mal, wenn ich sie sehe, zerbricht etwas in mir. Ich sehe, wie sie gefoltert, gequält, angeschossen und reanimiert wird. Ich sehe ihren Blick, als sie mich nicht erkannt hat. Es wird nie so sein wie früher. Casey, ich kann damit nicht umgehen. Es verändert sich zu viel um mich herum und ich stehe kurz davor auszuflippen. Ich muss mich jeden Tag zusammenreißen, damit ich nicht in den nächsten Zug steige und alles hinter mir lasse. Für Außenstehende mag meine Reaktion übertrieben wirken, doch so fühle ich."
Caseys Augen weiten sich, dann rückt sie ein Stück, breitet ihre Arme aus und kommt langsam näher. Ich lasse es zu, lasse mich von ihr umarmen, weil ich weiß, dass es sie tröstet. Um ehrlich zu sein, wäre es mir lieber, wenn sie gehen würde. Ich möchte allein sein. Casey vergräbt den Kopf an meiner Schulter und ich habe Mühe zu verstehen, was sie sagt.
"Bitte, versuche es."

Criminal Minds - Spencer und HarrietWo Geschichten leben. Entdecke jetzt