Teil 2 - Kapitel 18 - Er braucht es dringender

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Der Duft der Dinge ist die Sehnsucht, die sich in uns nach sich erwecken.
- Christian Morgenstern

Spencer

"Er verhöhnt uns", stellt Morgan fest.
"Er will uns zeigen, dass wir nichts gegen ihn tun können", stimmt Alex ihm zu.
Garcia sitzt in ihrem Büro und versucht an brauchbare Informationen zu gelangen.
"Ist es nicht ungewöhnlich, dass der Täter seine Strategie ändert? Zuvor hat er sie gezwungen, sich zu erschießen. Jetzt bringt er sie selbst um. Ist es ihm langweilig geworden?" Alex seufzt.
"Wir sollten erst mit Ryan sprechen. Sicher weiß er etwas", wirft JJ ein.
Mein Blick fällt auf Aaron. Bisher hat er kein Wort gesagt. Er fühlt sich noch immer schuldig und denkt, dass Harriets Zustand seine Schuld ist. Dabei bin ich es, der sich für ihren Zustand verantwortlich fühlt.
"Wir teilen uns auf", sagt Hotch schließlich. "Wir helfen Garcia bei der Suche nach dem Täter, versuchen Informationen über ihn zu bekommen und besuchen Ryan im Gefängnis."
Normalerweise würde Hotch jedem klare Anweisungen geben. Er überlässt uns nur die freie Wahl, weil er mich nicht zwingen möchte, Ryan im Gefängnis zu besuchen. Ich entscheide mich dafür.

Hotch, JJ und ich sitzen in einem Auto und fahren zu dem Übergangsgefängnis. Ryan wird erst in ein paar Tagen verurteilt. In der Zwischenzeit wird er dort untergebracht. Während der Fahrt sagt niemand ein Wort. JJ steht Harriet ebenfalls sehr nahe. Auch ihr fällt es schwer, Ryan unter die Augen zu treten. Es wundert mich, dass Rossi uns nicht begleiten wollte. Er ist einer ihrer engsten Freunde. Sie verbindet etwas, und ich bin mir nicht sicher, ob ich imstande bin, ihre Art von Freundschaft zu begreifen. Als wir vor der geschlossen Tür stehen, die zu Ryans Zelle führt, blicken sie mich fragend an. Das letzte Mal, als einer vom Team mit ihm in einem Raum war, ist jemand beinahe gestorben. Ich war nicht da, um sie zu retten. Diesen Fehler mache ich nicht ein zweites Mal. Ich nicke und bitte den Wärter, die Zellentür zu öffnen. Als Ryan mich sieht, bricht er in schallendes Gelächter aus. Er erinnert sich an mein Gesicht.
"Ich wusste, dass Sie früher oder später kommen würden", meint er.
Die Zelle ist klein, aber groß genug um einen gewissen Abstand zwischen uns zu halten. Ich lasse die Hände in den Taschen meiner Hose verschwinden.
"Was wollen Sie?", fragt er.
Er sitzt an einem Tisch, der inmitten des Raumes steht. Seine Hände sind gefesselt und er trägt einen Overall. Es fühlt sich seltsam an, ihn vor mir zu haben. Eine Seite von mir will ihn schlagen, bis er sich nicht mehr bewegt. Die andere Seite ist neugierig und möchte herausfinden, wieso er es getan hat. Wie üblich gewinnt der neugierige Teil. Ich hole JJ zu mir und fordere Sie dazu auf, mit Ryan zu sprechen. Für ihn ist die Vorstellung reizender, eine Frau in seiner Nähe zu haben. Entweder wird JJ an die Information kommen, die wir benötigen, oder er wird sie die ganze Zeit über anlügen, was es mir einfach macht zu verstehen wie er tickt.
"Wissen Sie, wer der Täter ist?", fragt JJ und verschränkt die Arme vor der Brust. Sie wirkt gefasst und ruhig.
Ryan grinst. "Natürlich."
"Wer ist es?"
Für den Bruchteil einer Sekunde ist Ryan verwirrt. Es verunsichert ihn, dass JJ ihm direkte Fragen stellt.
"Wieso sollte ich Ihnen die Information geben, die Sie benötigen, ohne etwas im Gegenzug zu verlangen?"
"Stelle ihm Fragen", flüstere ich JJ zu.
Sie nickt kaum merklich. "Kennen Sie den Täter persönlich?"
"Ja."
"Könnten Sie uns zu ihm führen?"
Ryan legt den Kopf schief. Er ahnt etwas. Sehr intelligent ist er allerdings nicht. "Ja", antwortet er gedehnt.
"Okay", sage ich, bevor JJ die nächste Frage stellt.
Sie nickt und verlässt die Zelle.
"Sie haben bei jeder Frage gelogen. Nur Ihre letzte Antwort entsprach der Wahrheit."
"Toll", sagt er. "Ich habe den Streber."
Ich reagiere nicht auf seinen Kommentar. Er will mich provozieren, um mich aus der Fassung zu bringen. Wenn er lügt, beißt er sich jedes Mal auf die Unterlippe. Viele Menschen machen unbewusst eine Geste, wenn sie lügen, nervös sind oder Angst haben.
"Sie wissen nicht, wer der Täter ist. Ich nehme an, Sie kennen jemanden,
der im Kontakt mit dem Täter steht?"
"Nein! Raus hier! Ich sag nichts mehr!"
"Sie haben mir alles gesagt, was ich wissen muss."
Ich verlasse seine Zelle und treffe mich mit Hotch und JJ vor der Tür.
Bei der letzten Antwort hat er gelogen. Seine abwehrende Reaktion hat ihn verraten. Das heißt, dass wir seine letzten Anrufe, Aufenthaltsorte und Nachrichten überprüfen müssen, um herauszufinden, zu wem er in letzter Zeit Kontakt hatte. Wenn wir diese Person finden, wird sie uns direkt zum Täter führen.

Casey

Ich klopfe an Spencers Haustür und warte einen Moment. Er ist nicht zu Hause. Ich seufze und setzte mich auf den Boden im Flur, um auf ihn zu warten. Bestimmt ist er unterwegs und taucht gleich auf. Als er mich gestern angerufen hat, konnte ich ihm nicht glauben, obwohl ich weiß, dass er mich nicht anlügen würde. Das letzte Mal habe ich ihn auf der Hochzeit gesehen, doch wir haben nur kurz miteinander gesprochen. Wir stehen uns nicht sehr nahe, doch ich würde das gern ändern. Ich brauche seinen Trost und möchte von ihm hören, dass Harriet gesund wird. Aus seinem Mund würde das glaubhaft klingen. Ich sitze vielleicht eine halbe Stunde so da, bis die Eingangstür aufgeht und Spencer im Flur erscheint. Ich stehe auf. Einen Augenblick starren wir einander nur an. Zu meiner Überraschung seufzt er, kommt auf mich zu und schließt mich in seine Arme. Ich bin so erstaunt, dass es einen Moment dauert, bis ich seine Umarmung erwidere und mein Gesicht an seine Schulter lehne. In diesem Augenblick wird mir klar, dass er den Trost dringender braucht als ich. Spencer mag Umarmungen nicht. Wenn er mich schon freiwillig umarmt, muss es ihm wirklich schlecht gehen.
"Ich kann sie nicht verlieren", flüstert er leise.

Spencer

Casey fährt uns zum Krankenhaus. Dieses Mal fällt es mir unglaublich schwer, Harriet zu besuchen. Im Moment liegt sie zwar im Koma, doch es gibt Hoffnung. Wenn ich ihr Zimmer betrete und der Arzt schlechte Neuigkeiten hat, gibt es vielleicht keine Hoffnung mehr. Vor ein paar Jahren hätte ich nie gedacht, dass ich eine Frau kennenlernen würde, für die ich in der Lage bin, solch starke Gefühle zu entwickeln. Anfangs war es sehr schwer für mich, damit umzugehen. Das ist es noch. Es ist wunderschön und beängstigend zugleich.

Criminal Minds - Spencer und HarrietWo Geschichten leben. Entdecke jetzt