Kapitel 71

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Zu spät, ist das einzige, woran ich denken kann. Ich bin zu spät.

(immer noch Andre)

Ich drehe mich um und steuere die Tür an. Ich kann ihren mitleidigen Blick nicht mehr ertragen. Mein halbes Leben lang haben mich alle so angesehen, denen ich meine Geschichte erzählt habe. Immer. Ich konnte förmlich Gedanken der Leute lesen. „Der arme Junge, der von seinem eigenen Vater misshandelt wurde..." „Der arme Junge, der kein Zuhause mehr hat, keine Familie mehr..." Und nun: „Der arme Mann, der soeben seinen Vater verloren hat..." Ich halte das nicht mehr aus! Ihr aller Mitleid demütigt mich, ist wie ein Schlag ins Gesicht für mich, ein Stich in die Wunde.

„Herr Schiebler... warten Sie noch einen Augenblick!", ruft sie mir nach. Nein, ich will nicht, dass sie mir noch mehr erzählt, mir noch mehr wehtut, noch mehr Mitleid zeigt, mir sagt, um was ich mich jetzt alles kümmern muss, wenn er tot ist. Was das alles für mich bedeutet.

Dennoch bleibe ich stehen.

„Fast hätte ich es vergessen!" Sie schließt atemlos die Tür hinter uns und streicht ihren weißen Arztkittel glatt. „Das hier hatte er in der Hand, als wir ihn gefunden haben." Sie hält mir ein weißes Blatt Papier unter die Nase, zwei Mal gefaltet. „Ich denke, es ist für Sie."

Zögerlich nehme ich es entgegen.

„Ich lasse Sie jetzt alleine. Ich weiß, dass sie etwas Zeit für sich brauchen. Rufen Sie dann bitte im Krankenhaus an, wenn Sie sich dazu im Stande fühlen, einige Dinge mit uns zu klären."

Damit verschwindet sie in einem der Nebenzimmer und ich atme auf. Endlich kann ich in Ruhe nachdenken. Ich setze mich auf eine der Bänke in dem Flur um die Ecke und vergrabe das Gesicht in den Händen. Wie lange habe ich von diese Augenblick geträumt? „Er ist tot." Wie lange habe ich mir gewünscht, dass diese Worte endlich jemand zu mir sagt? Dass es ein Ende hat. Dass er endlich aus meinem Leben verschwindet und zwar für immer. Dass er mich nie wieder ansehen kann mit diesem kalten, gefühlslosen Blick. Mich nie mehr anfassen kann. Dass er nie wieder die Kontrolle über meinen Körper gewinnt und mich demütigt, ohne dass ich auch nur das Geringste dagegen tun kann... Wie ich mir tausende Male vorgestellt habe, wie ich ihn persönlich umbringe. Nachts in sein Zimmer schleiche und ihm mit einem Messer die Kehle aufschlitze wie in einem dieser Actionfilme. Oder mit einer Waffe auf ihn ziele. Ihm in die Augen sehe und abdrücke, ohne auch nur eine Sekunde zu zögern. Wie ich an seinem Grab stehe und voller Genugtuung über ihn lache, weil ich mich für alles gerächt habe, was er mir jemals angetan hat. Jetzt ist genau dieser Moment da.

„Er ist tot" , sage ich zu mir selbst. Und empfinde nichts... Falsch, ich empfinde irgendetwas, das ich nicht beschreiben kann. Triumph, Genugtuung oder irgendeine Form der Zufriedenheit - wie ich es mir immer vorgestellt habe - ist es jedenfalls nicht. Es ist auch nicht Trauer oder Wut oder Hass, nein. Ich fühle mich viel mehr leer. Leer und fassungslos, da ich so kurz davor war, endlich das zu erreichen, was ich mir insgeheim mein Leben lang erhofft habe. Dass ich ihn wieder sehe und wir über alles reden. Dass er sich für mich interessiert, mir zuhört. Ob ich ihm verziehen hätte, kann ich nicht sagen. Ich weiß nicht, ob ich schon dafür bereit wäre. Doch jetzt spielt das alles überhaupt keine Rolle mehr. Nie wieder.

Ich starre auf das Blatt in meiner Hand. Sollte ich es einfach wegwerfen? Ich kann eh niemals mit ihm darüber sprechen. Und trotzdem falte ich es auseinander. Es sind nur wenige Zeilen. Ich will gerade zu lesen beginnen, da klingelt mein Handy. Ich ziehe es aus der Hosentasche. Jans Name leuchtet mir auf dem Display entgegen. Kurz zögere ich, dann lege ich es neben mir auf die Bank. Ich will jetzt mit niemandem reden, nicht mal mit ihm. Ich überfliege die krakelig geschriebenen Worte.

Andre,

ich weiß, dass mein Ende nah ist. Ich spüre es so deutlich wie noch nie. Vielleicht wird dich dieser Brief niemals erreichen. Vielleicht hat dich mein erster Brief niemals erreicht. Aber ich bin so naiv zu glauben, dass du mich doch noch besuchen kommst. Ich weiß, dass ist absolut dumm von mir, weil die Chancen so schlecht stehen, nach allem, was geschehen ist. Und dennoch halte ich fest an meinem Glauben an dich, mein Sohn. Ich sollte dich nicht so nennen. Ich kann nicht anders. Ich wünsche mir in meinen wenigen Stunden nur noch eins. Und wenn du das hier (trotz all meiner Zweifel) liest, dann bist du bei mir. Ich verlange nichts von dir. Ich hoffe nur, dass Gott dich beschützt (auch wenn ich niemals gläubig war) und dass du mir eines Tages verzei

Das h ist nicht mehr als solches zu erkennen, denn an dieser Stelle verwischt die Tinte und hinterlässt einen großen blauen Fleck und eine lange Spur zum Rande des Blattes. Unten rechts fällt mein Blick auf das Logo des Krankenhauses, welches bezeugt, dass das Papier aus dem Block stammt, der auf dem Nachttisch lag. Daneben, in der Ecke des Blattes klein und doch unübersehbar ein roter Fleck. Ist es das, wofür ich es halte?! Wieder beginnt mein Handy zu klingeln, wieder ist es Jan. Ich drücke ihn weg und schalte das Gerät aus. Ich schließe die Augen und sehe die Szene bildlich vor mir. Wie er spürt, dass die Schmerzen schlimmer werden. Wie er weiß, dass ihm nicht mehr viel Zeit bleibt. Wie er das Blatt vom Block reißt und hastig zu schreiben beginnt. Wie es ihm immer schlechter geht. Wie er sich immer elender fühlt. Wie die Schmerzen unerträglich werden. Wie er den Notfallknopf drückt und schnell weiter schreibt. Wie ihm das Blut aus der Nase zu laufen beginnt und auf das Papier tropft. Wie ihm der Füller schließlich aus der Hand rutscht und mit einem lauten Knall auf den Boden fällt. Wie sich die Tinte ausbreitet und langsam mit seinem Blut vermischt. Dunkelblau wird zu dunkellila. Lila wird zu violett. Violett wird zu rot.


Tut mir leid. Vor lauter Stress in den letzten zwei Tagen kommt das Kapitel erst jetzt. Nun ja, ich hoffe es hat euch gefallen und eure Stimmung nicht zu sehr getrübt.  Wie findet ihr die Musik? Hatte ich ja schon mal... Soll ich in Zukunft öfter mal was hinzufügen? Auch bei Kapiteln, die schon online sind oder da eher nicht...?

Ich hoffe ihr hattet ein schönes Wochenende. :* :)

Das Kapitel ist für die liebenswerte Meliesecret. Du weißt warum. <3

Memories never die | JandreWhere stories live. Discover now