Kapitel 66

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Jan

"Andre, was ist los?" Ich lasse ihn los, doch er drückt mich nur noch fester an sich. Sein Kopf liegt auf meiner Schulter und ich spüre seine großen Hände auf meinem Rücken. Obwohl es sich so schön anfühlt, bin ich unruhig, da ich unbedingt wissen will, was ihn so dermaßen aus der Fassung bringt.

"Andre?" Er reißt sich von mir los, steht auf und verlässt mit eiligen Schritten mein Zimmer. Im ersten Moment denke ich, dass er schon wieder wütend auf mich ist, aber ich höre ihn meinen Namen rufen. Also folge ich ihm in sein Zimmer, wo er neben seinem Bett in einem Berg aus Klamotten herumwühlt und etwas zu suchen scheint. Da er eine Ewigkeit braucht, lasse ich den Blick umherschweifen und mir fällt eine Packung Kondome auf, die halb unter seinem Bett hervorguckt. Als er merkt, wie ich darauf starre, schiebt er sie mit rotem Kopf mit einem Fuß wieder ganz unter das Bett und drückt mir gleich darauf einen ziemlich zerknüllten weißen Umschlag in die Hand. "Für Andre" steht drauf. Keine Adresse, kein Absender. Ich sehe ihn fragend an.

"Lies", murmelt er. Ich ziehe das Papier aus dem Umschlag und falte es auseinander. Die Handschrift ist klein, sehr krakelig und mir vollkommen unbekannt. Ich kann sie nur mit Mühe lesen. An manchen Stellen ist das Papier voller Flecken, welche die Schrift verschwimmen lassen. Ob von Andre oder dem Absender weiß ich nicht. Eine große Ecke am linken unteren Rand fehlt. Ich beginne zu lesen.

Lieber Andre,

ich weiß nicht, wie ich diesen Brief an dich überhaupt anfangen soll. Ich weiß nicht, ob du ihn überhaupt lesen wirst, wenn du erfährst, wer ich bin. Ich weiß auch nicht, ob der Brief bei dir ankommen wird.

Es ist lange her, dass ich dich gesehen habe. Mehr als zehn Jahre, denke ich. Seither ist viel passiert. Ich habe erst vor kurzem erfahren, dass du jetzt "berühmt" bist, wenn man das so sagen kann. Ich kenne mich nicht so gut aus mit dem Internet und dem Socialmedia. Eine Freundin von mir hat mir ein Video von dir und deinen Freunden gezeigt. Und was soll ich sagen? Ich denke, dass ich kein Recht dazu habe und dass meine Meinung dich nicht kümmert, aber ich bin stolz auf dich, Andre. In gewisser Weise bin ich das wirklich, so seltsam es klingt.

Vielleicht willst du wissen, wie es mir ergangen ist, seitdem du fort warst. Nein, sicherlich willst du es nicht. Trotzdem, nur ganz kurz dazu. Es kam wie es kommen musste: Eines Morgens bin ich unter einer Brücke aufgewacht und wusste, was passiert war, noch wo ich war. Ich hatte furchtbare Schmerzen, viel schlimmer als sonst. Eine alte Frau hat die Polizei gerufen und sie haben mich in eine Klinik gebracht. Dort habe ich mich durch das volle Programm gekämpft. Anschließend eine Entwöhnung. Ich habe fast zwei Jahre gebraucht. Dann der Start eines neunen Lebens. Das kannst du dir wahrscheinlich nicht vorstellen, aber es stimmt. Doch schon damals wurde mir gesagt, dass meine Leber schlimme Schäden durch all die Jahre und den Alkohol davon getragen hat. Natürlich ist es so. Und nun liege ich hier und weiß, dass es nicht mehr lange gehen wird. Noch zwei, maximal drei Wochen, sagen sie. Ich könnte weiterleben. Eine Spenderniere. Darum hat man mich nach Köln Mehrheim verlegt. Sie sagen, die Niere liegt bereit. Sie passt zu meinem Körper. Aber ich glaube, ich bin es nicht wert, einem anderen Menschen, der die Niere viel dringender braucht als ich, sie wegzunehmen. Nein, nicht ich. Nach allem, was ich getan habe, steht mir das nicht zu. Ich bin der schlechteste Mensch, den ich kenne. Schlimmer als alle anderen. Ich habe das verloren, dass im Leben am wichtigsten ist: meine Familie. Meine Frau und meine Kinder. Dich. Ich habe die Menschen, die ich am meisten liebte am stärksten verletzt. Weil ich ein Saufkopf war. Ein Nichtsnutz. Noch schlimmer. Ein Verbrecher, ein Vergewaltiger, ein Bastard... Ich habe es beim besten Willen nicht verdient, auch nur einen Tag länger auf dieser Welt zu sein. Ich werde die Tage verbringen, die Gott mir noch gibt und  an meiner Stelle soll jemand anderes die Niere erhalten. Irgendjemand, der sie mehr verdient hat.

Memories never die | JandreWhere stories live. Discover now