Kapitel 55 - Ablenkung

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Je planmäßiger Menschen vorgehen, desto wirksamer trifft sie der Zufall.
- Friedrich Dürrenmatt

Harriet

Wir sind da, einige Meter vor dem Treffpunkt. Ich werde das Vergnügen haben, dem Täter das Geld zu überreichen. Das Team wird hinter mir sein.
Und wenn mir jemand in den Kopf schießt, ehe das Team eingreifen kann?
Ich seufze. Natürlich habe ich gewusst, auf was ich mich einlasse. Spencer ist davon überhaupt nicht begeistert, aber er verbietet es mir auch nicht. Es ist unser Berufsrisiko. Er kann mich nicht vor den Gefahren schützen, die es mit sich bringt, wenn man ein Profiler ist. Nicht nur das Team wird mir Deckung geben. Ein paar Scharfschützen haben sich auf umliegenden Häuserdächern positioniert. Wir werden ihm das Geld geben, im Tausch gegen die Kinder.
Hoffentlich klappt alles. Obwohl ich schon unzählige Male Außeneinsätze hatte, bin ich etwas nervös. Wenn ich etwas falsch mache, werden all diese Kinder sterben. Es sei denn, der Täter hat geblufft, wovon ich nicht ausgehen darf.
"Bist du bereit?", fragt Hotch.
Ich nicke langsam. "Ja."
Ich gehe den Plan im Geiste noch einmal durch. Wir sind auf alle Eventualitäten vorbereitet. Es sollte nichts schiefgehen.
Es darf nichts schiefgehen.
Hotch legt mir eine Hand auf die Schulter und nickt kaum merklich. "Los."

Ich laufe zum vorgegebenen Treffpunkt. Adrenalin schießt durch meinen Körper und ich traue mich, etwas schneller zu gehen. Es dauert nicht lange, da kann ich bereits erste Umrisse ausmachen, die Menschen und Autos sein müssen. Die Tasche mit dem Geld ist schwer, aber nicht zu schwer. Ich kann die Blicke von den Scharfschützen, den Verbrechern und dem Team auf mir spüren.
"Alles okay?", ertönt Garcias Stimme in meinem Ohr.
Sie hat mir einen Chip ins Ohr gesetzt und ein kaum sichtbares Mikro oberhalb meiner Brust befestigt, damit wir miteinander kommunizieren können.
"Ja", antworte ich. "Alles in Ordnung."
Es ist so ruhig, dass ich meinen Herzschlag hören kann, wenn ich mich konzentriere. Mein Atem geht schnell. Als ich ins Sichtfeld der Täter gelange, ernte ich überraschtes Gelächter. Dort stehen zehn in schwarz gekleidete Männer. Obwohl sie viel Wert darauf gelegt haben, nicht erkannt zu werden, trägt keiner von ihnen eine Maske, was mich überrascht.
"Sie haben eine Frau geschickt!", ruft einer.
Er ist der Größte von ihnen und steht ganz links. Seine Stimme kenne ich. Er ist der Typ, der uns angerufen hat. 
"Wen hast du erwartet?", entgegne ich selbstbewusst, obwohl ich mich überhaupt nicht so fühle.
"Ich dachte, dass der Chef auftauchen würde, aber offenbar hat er nicht die Eier dazu", antwortet er und kommt ein paar Schritte auf mich zu.
Die Männer hinter ihm lachen gehässig.
"Und du hast die Eier? Wenn es so wäre, würdest du allein kommen."
Plötzlich wird sein Gesichtsausdruck ganz ernst. "Schluss damit. Ich will das Geld."
"Und ich will die Kinder. Woher weiß ich, dass du sie nicht bereits getötet hast?"
Er richtet seine Waffe auf mich. "Gib mir einen guten Grund, wieso ich dich nicht erschießen, das Geld nehmen und so weitermachen soll wie bisher."
Ich lache. "Wenn du mir auch nur ein Haar krümmst, hetzen sie das Einsatzkommando auf euch." Von den Scharfschützen erwähne ich bewusst nichts. "Ich bin selbst im toten Zustand in der Lage, dir den Arsch aufzureißen."
"Mag sein, aber die Kinder wären trotzdem tot."
"Deswegen schlage ich vor, dass du einen Vorschlag machst, der alle zufrieden stimmt."
"Du schickst einen eurer Agenten her und einer von meinen Leuten führt ihn zu den Kindern. Wenn ich das Geld habe, lässt er die Kinder frei."
"Gut. Dann muss ich telefonieren", sage ich.
"Musst du nicht. Ich weiß, dass du irgendwo eine Wanze versteckt hast."
"Wir schicken Spencer", ertönt Garcias Stimme in meinem Ohr.
Ich bin mir sicher, dass Spencer darauf bestanden hat. Genau das ist der Grund, wieso wir theoretisch nicht zusammen sein dürfen. Wenn zwei Agenten in einer Einheit arbeiten, kann man nicht immer objektiv denken. Wäre Spencer an meiner Stelle, hätte ich auch darauf bestanden; hätte genauso gehandelt wie er.
"In Ordnung."

Es dauert ein paar Minuten, bis Spencer bei uns ist. Seine Hand ruht an dem Griff seiner Waffe.
"Du kannst jetzt gehen", meint der Täter und deutet mit den Kinn zu einem der Männer.
Dieser nickt und wartet darauf, dass Spencer ihm folgt.
"Denk an das, was wir besprochen haben", flüstert er mir ins Ohr und für einen kurzen Moment fällt sein Pokerface von ihm ab und ich sehe, wie besorgt er um mich ist.
Ich nicke steif und blicke ihm hinterher, als er mit dem Mann verschwindet.
"So, jetzt zu dir", meint der Typ mir gegenüber, zieht seine Waffe hervor und richtet sie auf mich, bevor ich reagieren kann. Er weiß, was er tut.
"Was soll das?"
"Woher soll ich wissen, dass deine Leute nicht sofort mein gesamtes Team erschießen, wenn die Bohnenstange bei den Kindern ist?"
"Woher willst du wissen, dass ich es nicht tue?", kontere ich.
"Du?", wiederholt er und lacht.
Ich nehme ihm die Pistole ab, stoße ihn von mir weg und richte beide Waffen auf seinen Kopf.
Die Männer reißen sofort die Gewehre hoch und zielen auf mich.
"Hätten wir uns nicht darauf geeinigt, keine Gewalt anzuwenden, könnte man meinen, dass ihr mich gerade erschießen wollt", sage ich und nehme die Waffen wieder runter.
Normalerweise würde ich nie so reden, doch ich muss die Rolle des furchtlosen Mädchens aufrechterhalten, damit sie keinen Verdacht schöpfen und erkennen, dass ich nur die Ablenkung bin.

Criminal Minds - Spencer und HarrietWo Geschichten leben. Entdecke jetzt