Kapitel 26 - Mareen und Liebe

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Wir leiden nicht unter schockierenden Traumata, sondern wir machen aus ihnen, was am besten unseren Zielen dient.
- Alfred Adler

Spencer

Casey ist so oft geschlagen worden, bis sie gestorben ist, ein klassischer Overkill. Morgan kümmert sich um den Tatort und sagt mir Bescheid, wenn sie etwas finden. Seitdem Harriet die Leiche gesehen hat, hat sie kaum ein Wort gesprochen und geht allen aus dem Weg. Ich kann verstehen, wie sie sich fühlt. Als Maeve umgebracht wurde, war ich am Boden zerstört. Dem überwältigenden Gefühl von tiefer Trauer, folgte eine innere Leere, von der ich mir sicher war, dass sie nie verschwinden würde. Tatsächlich war es Rossi, der mir dabei geholfen hat, mit ihrem Tod umzugehen. Man darf sich nicht krampfhaft an dem festhalten, was nicht mehr sein kann. Man muss den Schmerz zulassen, damit er irgendwann erträglich wird.
Ich klopfe an die Tür. Harriet hat sich im Bad eingeschlossen, weil sie die mitleidigen Blicke der anderen nicht mehr ertragen konnte. Erst geschieht gar nichts, dann öffnet sie mir doch. Sie setzt sich auf den Boden, zieht die Beine an und hält ein kleines, schon etwas mitgenommen aussehendes Stofftier in der Hand. Vermutlich hat es Casey gehört. Ich setzte mich zu ihr und sie legt den Kopf auf meine Schulter. Ihr Gesicht ist ganz verweint.
"Als ich in die zehnte Klasse ging, wurde ich viel gehänselt", beginnt sie zu erzählen. "Und die Schüler, die mich nicht gehänselt haben, gingen mir aus dem Weg, weil ich das Mädchen war, das ihre Eltern verloren hatte. Und sie wussten nicht, wie sie damit umgehen sollten. An einem Tag kam Paul zu mir. Er war eine Klasse über mir und ich hatte ein Auge auf ihn geworfen. Er kam auf mich zu und beugte sich ganz nah zu mir. Ich dachte, er würde mich küssen, doch stattdessen drückte er mir ein rohes Ei ins Gesicht und fing an zu lachen. Und dann viel mir auf, dass sich nahezu jeder aus meiner Klasse um mich herum versammelt hatte, und alle hielten sie einen Stoffbeutel in der Hand. Dann fingen sie an mich mit Eiern zu bewerfen. Als ich nach Hause kam, war Mareen noch bei der Arbeit. Casey war allein zu Hause. Sie war erst sechs Jahre alt, doch sie fragte mich nicht, was passiert war. Sie half mir, mich sauber zu machen, gab mir ihr liebstes Stofftier und kuschelte sich an mich."
Wir schweigen ein paar Minuten, bis sie wieder zu reden anfängt.
"Erzählst du mir eine Geschichte? Ich möchte deine Stimme hören."
Ich runzele die Stirn und denke einen Moment nach. "Ich war in der Bibliothek und Harper Hillman kam auf mich zu und sie richtete mir aus, dass Alexa mich hinter der Sporthalle treffen will. Ich war sehr nervös. Alexa war locker das schönste Mädchen der Schule. Sie war da und wartete. Aber, auch das gesamte Footballteam. Sie zogen mich nackt aus und banden mich an einen Turmpfosten. So viele Kinder waren da und haben einfach nur zugesehen. Niemand hat mir geholfen. Ich hab sie immer wieder angebettelt, aber sie sahen bloß zu. Dann wurde ihnen langweilig und sie gingen weg. Es war Mitternacht, als ich endlich nach Hause kam und meine Mum hatte wieder einen ihrer Schübe und merkte nicht einmal, dass ich zu spät kam."
Harriet schaut mich entsetzt von der Seite an. "Das tut mir leid", sagt sie ganz ernst.

Harriet

Zwei Tage später ...

Ich habe mein eigenes Heulen satt. Ich will mich nicht mehr schwach und weinerlich und hilfsbedürftig fühlen. Deswegen arbeite ich wie verrückt, um dem Kummer aus dem Weg zu gehen. Das restliche Team ist eingetroffen, außer Garcia, die in Virginia geblieben ist, doch sie wird uns von dort aus helfen. Sie haben mir ihr aufrichtiges Beileid zugesprochen und ich stand einfach nur da, unfähig mich zu rühren. Wir haben uns in der alten Hütte im Garten von Mareen ein provisorisches Arbeitszimmer eingerichtet. Dort arbeite ich nun, wenn ich nicht esse oder schlafe.

Die Farm ist sehr groß und wir konnten die anderen mühelos unterbringen. Der Rest des Teams ist hergekommen, um uns bei dem Fall zu helfen, und ich bin ihnen sehr dankbar dafür. Ich fange an, die ohnehin ordentliche Hütte aufzuräumen. Ich weiß nicht, wie viel Zeit vergeht, doch irgendwann höre ich das vertraute Quietschen der Tür. Es ist Rossi.
"Guten Morgen.", sage ich.
"Guten Morgen. Wie lange bist du schon hier?"
Ich zucke mit den Schultern. "Ein oder zwei Stunden."
"Harriet, wieso tust du dir das an?"
"Was denn?", frage ich, obwohl ich weiß, was er meint.
"Du hörst ja gar nicht mehr auf zu arbeiten."
"Wenn ich aufhöre, denke ich über Casey nach und dann heule ich. Und das hilft ja nun wirklich niemandem."
"Weinen ist nichts, wofür man sich schämen muss. Wenn du jemanden zum Reden brauchst, kannst du immer zu mir kommen."
"Danke, David. Weißt du, was an der Leiche und am Tatort gefunden wurde?", frage ich.
Ich habe bewusst Leiche und nicht Casey gesagt. Ich will sie nicht als irgendein Mordopfer eines Falls betrachten, den ich bearbeite.
"Harriet, ich denke nicht, dass das Opfer Casey ist."
Ich runzele die Stirn. "Aber, Mareen hat sie doch identifiziert und ich habe sie auch gesehen!"
"Mareen hat gelogen. Das Opfer sah Casey sehr ähnlich, aber sie war es nicht."
"Wie ...?"
"Ist dir aufgefallen, dass sie, seitdem wir hier sind, kein einziges Mal geweint hat? Sie stört es nicht, in Caseys Zimmer zu gehen, ihr niedergeschlagener Blick wirkt aufgesetzt. Außerdem wollte sie dir nicht erzählen, dass Casey gestorben ist, sondern hat dich angerufen, aus ihrem Haus geworfen und gezwungen, die Leiche mit eigenen Augen zu sehen, damit du davon überzeugt bist, dass sie tot ist. Und dieser Mitch ist einfach verschwunden, ohne sich zu verabschieden, obwohl er weiß, wie schlecht es dir gerade geht. Irgendetwas ist hier faul."
"Ich kann das einfach nicht glauben", sage ich tonlos.
Könnte Mareen mir so etwas antun? Warum sollte sie den Tod ihrer Tochter vortäuschen? Und was hat Mitch damit zutun?
"Harriet. Wenn du zwei Töchter hättest; eine stirbt, die andere ist todunglücklich und weint, würdest du sie dann nicht trösten?"
Ich nicke.
"Mareen hat dich nicht getröstet. Sie kann dir ja nicht mal in die Augen sehen."
Ich bin so mit mir selbst und der Arbeit beschäftigt gewesen, dass mir das gar nicht aufgefallen ist.
"Hast du sonst jemandem davon erzählt?", frage ich.
"Nein, aber ich glaube, die anderen haben bereits auch so eine Ahnung."

"Mareen?!", rufe ich wütend.
Sollte das, was Rossi gesagt hat, der Wahrheit entsprechen, wie kann ich ihr da noch vertrauen? Ein kleiner Hoffnungsschimmer ist in mir entfacht und wenn ich jetzt erfahren sollte, dass Casey wirklich tot ist, wird es mich wieder mit voller Wucht treffen. Mareen antwortet mir nicht. Entweder ignoriert sie mich oder sie ist nicht Zuhause.
"Mareen?", rufe ich wieder, doch auch diesmal bekomme ich keine Antwort. Sie ist nicht da. Und auch sonst nirgendwo. Es scheint, als wäre sie spurlos verschwunden.

Ich bin ein wandelndes Nervenbündel. Mitch ruft mich nicht zurück, Casey ist vielleicht tot und Mareen ist abgehauen, wohin auch immer. Und sie verschweigt irgendetwas. Wenn sich hier nicht bald etwas ergibt, wird das Team gezwungen sein, zurück nach Quantico zu fahren, um "richtige" Fälle zu bearbeiten.
Frustriert gehe ich zurück ins Haus, in das Zimmer, dass für Spencer hergerichtet worden ist, und lasse mich auf einem Sessel neben der Tür fallen. Ich schließe für einen Moment die Augen und ehe ich mich versehe, bin ich eingeschlafen.

Es dämmert bereits, also muss ich den ganzen Nachmittag geschlafen haben. Jemand hat mich zugedeckt. Jetzt, in diesem Moment, fühle ich mich seltsam ruhig. Die Probleme, die mich vor ein paar Stunden noch gequält haben, kann ich aus einem anderen Blickwinkel betrachten. Ich strecke mich, streife die Decke ab und binde mir die Haare zu einem Zopf. Es dauert nicht lange, bis ich Spencer gefunden habe. Er sitzt draußen im Garten auf einem weißen Plastikstuhl und schaut in die Ferne. Ich schnappe mir einen der zusammengeklappten Plastikstühle, die an der Hauswand lehnen, stelle ihn neben Spencer und setzte mich dazu.
"Danke, dass du mich zugedeckt hast", sage ich, was er mit einem Lächeln erwidert.
Jedes Mal, wenn ich in seiner Nähe bin, würde ich ihn am liebsten an mich ziehen, seine Lippen auf meinen spüren und einfach mit ihm verschmelzen. Wir können uns stundenlang miteinander unterhalten. Und wir können auch einfach nichts sagen und die bloße Anwesenheit des anderen genießen.
"Spencer?"
Er sieht zu mir.
"Ich liebe dich."

Spencer

Einen Tag später...

Es klopft an meinem Zimmer.
"Komm rein", sage ich.
Morgan öffnet die Tür und setzt sich neben mich auf die Bettkante. "Du wolltest mich sprechen."
Ich nicke. "Ja, ich muss dir etwas erzählen. Gestern hat Harriet mir gesagt, dass sie mich liebt."
Morgan sieht überrascht zu mir auf. "Wow, das ist doch toll!"
Als er meinen Blick sieht, wird seine Miene ernst. "Oder etwa nicht?"
Ich falte die Hände im Schoß. "Ich bin mir nicht sicher."
"Liebst du sie denn?"
"Das ist es nicht. Ich habe ein schlechtes Gewissen. Ich muss immerzu an Maeve denken."
Derek legt mir eine Hand auf den Rücken. "Kleiner, Maeve wird nicht zurückkommen. Das, was ihr hattet, möchte Harriet nicht ersetzen. Sie weiß, dass Maeve dir viel bedeutet hat. Du musst dir erlauben, mit ihr glücklich zu sein"

Harriet

Ein paar Stunden später ...

Mein Handy klingelt.
"Hallo, Garcia", melde ich mich.
"Harriet! Ich hab Mareen gefunden!"
"Was ...? Wie hast du ...?"
"Ich habe es geschafft, ihr Handy zu orten!"
"Garcia!", jubele ich. "Das ist unglaublich."
"Ich weiß", sagt sie. "Ich schicke dir die Adresse."
"Du bist die Beste!"
Sie macht Kussgeräusche und legt auf. Ich haste die Treppen hinauf in den zweiten Stock und klopfe dreimal an Hochts Zimmer.
"Herein."
Ich öffne langsam die Tür, um nicht ungehalten zu wirken, kann mir ein Lächeln aber nicht verkneifen. Hotch knöpft sich gerade das Jackett seines Anzugs zu.
"Was gibt es?", fragt er.
"Garcia hat Mareens Handy geortet. Ich weiß jetzt, wo sie ist!"
Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist, doch ich bin sogar so forsch und umarme ihn.

Criminal Minds - Spencer und HarrietWo Geschichten leben. Entdecke jetzt