Kapitel 5 - Übernachtung

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Es gibt keine Grenzen. Weder für Gedanken, noch für Gefühle. Es ist die Angst, die immer Grenzen setzt.
- Ingmar Bergmann

Harriet

Im Krankenhaus hat man die Kugel entfernt und mein Bein mit einem Verband umwickelt. Ich habe zwar was gegen die Schmerzen bekommen, doch es tut immer noch höllisch weh. Nun stehe ich in Reids Hotelzimmer und ziehe wahllos ein Buch aus einem kleinen Bücherregal, stelle es jedoch wieder zurück, als ich seine Schritte höre.
''Du hattest Glück'', sagt er. ''Zwei Zentimeter und die Kugel hätte die Arterie getroffen."
Mir ist es ein wenig unangenehm, mit ihm allein zu sein. Ich glaube, er ist von meinem Einzug ins Team nicht gerade begeistert.
''Denkst du, der Täter aus unserem Fall hat mir ins Bein geschossen?'', frage ich.
''Ja, er wollte dir Angst machen''
Mein Gesicht verzieht sich vor Schmerz zu einer Grimasse.
''Oh, setz dich.''
Ich lasse mich auf die Couch fallen und fahre mit einer Hand über den Verband an meinem Bein, obwohl die Schmerzen dadurch schlimmer werden.
''Du kannst in dem Bett schlafen und ich schlafe dann ...''
''Die Couch reicht vollkommen.''
Ich bin froh, dass Spencer mich hier übernachten lässt. Bei dem Gedanken, allein in meinem Hotelzimmer zu sein, nachdem ich angeschossen und bedroht wurde, ist mir ganz komisch zumute. Wem wäre das auch nicht? Es ist allerdings nicht das erste Mal, dass mich jemand angeschossen hat. Erst vor ein paar Monaten, bin in ein Feuergefecht geraten und wurde an der Schulter getroffen. Manchmal bilde ich mir an der Stelle noch immer einen stechenden Schmerz ein, obwohl die Wunde längst verheilt ist. Ich stehe vorsichtig wieder auf und schließe Spencer für einen Moment in meine Arme. Er ist warm und riecht gut.
"Danke, dass ich bei dir sein darf"
Er erwidert die Umarmung nicht, doch er weicht nicht zurück, als ich mich von ihm löse. Einen Augenblick sind wir uns so nahe, dass ich seinen Atem auf meinem Gesicht spüren kann und mein Herz schlägt unwillkürlich schneller. Dann wünscht er mir eine gute Nacht und verschwindet im Schlafzimmer.

Spencer

''Wie war es gestern, Kleiner?'', fragt Morgan.
Meine Wangen glühen, wenn ich daran denke, wie nah Harriet und ich uns waren. Das beklemmende Gefühl in meiner Brust war zwar da, doch ich wollte ihr nah sein. Und langsam begreife ich, woher dieses Gefühl rührt, auch wenn ich es mir nur ungern eingestehe. Im Geiste sehe ich Maeve vor mir und schüttele den Kopf, um die Erinnerung an ihren Tod zu vertreiben. Ich mag Harriet und ich habe Angst davor, dass sich so etwas wiederholen könnte.
''Ein Bild sagt mehr als tausend Worte, Reid.''
''Da war nichts."
Morgan schmunzelt.

Wenig später sind alle im öffentlichen Polizeirevier versammelt. Der Sheriff hat eine Nachricht vom Täter für uns. Verwirrt nehme ich den Zettel an mich und falte ihn auseinander.
''Spence, was steht da?'', fragt JJ.
''Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt ist: Du sollst nicht töten; wer aber tötet, der soll des Gerichts schuldig sein.''
''Das ist ein Bibelvers'', stellt Rossi fest.
''Neues Testament, Matthäus, Kapitel fünf, Vers einundzwanzig, um genau zu sein'', sage ich und werfe heimlich einen Blick in Harriets Richtung.
Sie spielt mit ihren Fingern an einer Haarlocke herum und fokussiert einen Punkt auf der Wand hinter mir. Worüber denkt sie wohl gerade nach? Ich habe so ein Gefühl, als würde ich Harriet zum ersten Mal wirklich sehen. Mir war gar nicht bewusst, wie wunderschön sie ist.
''Was ist mit den Drohungen auf dem Auto?", meldet Blake sich zu Wort und ich zwinge mich, ihr meine Aufmerksamkeit zuzuwenden. "Er möchte nicht, dass wir ermitteln, doch er weiß, dass er verurteilt werden muss. Vielleicht will ein Teil von ihm es sogar.''
''Er steht mit sich im Konflikt", pflichtet Harriet ihr bei. "Töten ist eine Sünde, doch er findet Gefallen daran. Er foltert nicht, um zu bestrafen. Er genießt es."
Es klingelt, Garcia ruft an.
''Ich hab den Namen!'', jubelt sie.
''Welchen Namen?'', frage ich.
''Von dem Eigentümer der Hütte! Er heißt Samuel Richard und seine Eltern sind vor ein paar Monaten bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Offenbar gehören ihm mehrere Hütten, die in der ganzen Stadt verteilt sind. Sie wurden mal an Touristen vermietet. Samuel sollte das Business nach dem Tod seiner Eltern übernehmen, doch er hat es nie weitergeführt.''
''Babygirl, du bist die Beste!'', kommt es von Morgan. "Der Tod seiner Eltern könnte der Auslöser für die Morde gewesen sein."
''Seine Adresse habe ich euch schon geschickt.''
''Danke, Garcia'', sagt Hotch und legt auf.

Harriet

Wir haben seine Wohnung gestürmt, doch auch dieses Mal war er uns einen Schritt voraus. Er muss mit uns gerechnet und die Wohnung geräumt haben, bevor wir aufgetaucht sind. Wir haben alles auf den Kopf gestellt und sechs Videobänder gefunden, auf denen zu sehen ist, wie er seine Opfer foltert. Ich gehe davon aus, dass er sie mit Absicht zurückgelassen hat, damit wir sie finden. Er hat sich mit den Aufnahmen viel Mühe gegeben und seine Opfer aus verschiedenen Perspektiven gefilmt. Reid und ich sollen jetzt zum Polizeirevier fahren, um uns die Videos anzusehen.

Es dauert fast vier Stunden, bis wir alles durchgegangen sind. Leider haben uns die Aufnahmen nicht viel gebracht, da nichts auf seinen Aufenthaltsort schließen lässt. Wir wissen, wer der Täter ist. Er muss nur noch geschnappt werden.
"Das war schrecklich", sage ich und nehme einen Schluck von meinem Kaffee.
Spencer nickt und schenkt mir ein müdes Lächeln. "Es ist nur eine Frage der Zeit, bis wir ihn schnappen. Ich verstehe nur nicht, warum er seine Identität preisgegeben hat. Woher hätte er wissen sollen, dass wir bereits herausgefunden haben, wer hinter den Morden steckt?"
In den Videos hat er keine Maske getragen, also wollte er sein Gesicht nicht vor uns verbergen.
Ich zucke mit den Schultern. "Er kann nicht aufhören, weil ihn das Morden befriedigt. Hinterher empfindet er jedoch Reue. Vielleicht will eine Seite von ihm, dass wir ihn finden. Oder er verhöhnt uns."
Ich rühre eine Weile mit dem Löffel in meiner Tasse herum. Dann merke ich, dass Spencer mich dabei beobachtet.
"Erzähle mir was von dir", sagt er. "Wir sind jetzt Partner. Ich möchte dich besser kennenlernen."
Es wundert mich, dass er versucht ein Gespräch mit mir aufzubauen, doch ich lasse mich darauf ein.
"Was möchtest du wissen?"

Criminal Minds - Spencer und HarrietWhere stories live. Discover now