36 - Verschwunden und gefunden

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Die euphorische Stimmung war verschwunden, stattdessen erfüllte nun Angst Aleas Körper. Augenblicklich trat der Elvarion-Modus ein, ihr Kopf hatte instinktiv gehandelt. Wie automatisch klügelte sie einen Plan aus, wie sie ihre Freundin wiederfinden sollten.

Mit schnellen Schritten ging sie zu Ben herüber und klärte ihn rasch auf. Während sie sprach – wobei Bens Gesicht ebenfalls von fröhlich zu panisch wechselte – suchte sie bereits die Straßen ab, in die Tess verschwunden sein könnte. Von dem Platz gingen fünf Straßen ab. Drei von ihnen hatte sie aus ihrer Position im Blick, durch diese konnte Tess also nicht gegangen sein. Da blieben nur noch zwei. Welche von den beiden sollte sie wählen?

Die Entscheidung fiel Alea nicht schwer. Kurzerhand ging sie zu einem der Passanten herüber, die ihnen zugeschaut hatten und fragte ihn höflich auf Englisch, wohin ihre Freundin mit dem Akkordeon gegangen ist.
Erst hatte sie Zweifel, dass die Person sie verstand, doch dann deutete sie auf die linke der beiden übrigen. Alea bedankte sich, verbeugte sich noch einmal vor der sich zerstreuenden Menge und steuerte auf die genannte Straße zu.
Weit kam sie nicht. Ben hatte sie am Arm gepackt.

„Du gehst doch nicht etwa allein?", fragte er sie entgeistert.

„Ich mach das schon", erwiderte Alea in der Ruhe der Elvarion. Tief in ihrem Inneren war sie sich allerdings nicht so sicher, ob sie Tess finden konnte. „Geht ihr einfach schon einkaufen, wir treffen uns am Hafen."

„Ich komme mit!"
Lennox.
Alea hätte sich am liebsten die Hand gegen die Stirn geschlagen. Doch dafür war im Moment keine Zeit.

„Glaub mir", meinte sie gelassen, aber eilig. „Du bist der Letzte, den Tess jetzt sehen will."

Mit diesen Worten drehte sie sich um und ging in die Straße hinein. Es dauerte nur ein paar Sekunden, da hörte sie Schritte hinter sich. Einen Wimpernschlag später hatte die Person sie erreicht. Alea wollte sich schon umdrehen und Lennox seinen Beschützer-Trieb dieses Mal ordentlich ausreden, doch verblüfft musste sie feststellen, dass es Ben war, der ihr gefolgt war.

Zielstrebig den Blick nach Vorne gerichtet, ging der Kapitän ihres kleinen Segelschiffs neben ihr.
Bevor Alea etwas sagte, meinte er: „Ich lasse dich doch nicht allein nach ihr suchen. Zu zweit geht es besser. Und im Gegensatz zu Lennox und Sammy habe ich wie du eine recht gute Bindung zu Tess. Vor Lennox würde sie weglaufen, Sammy würde sie nicht ernst nehmen."

„Gut geschlussfolgert", meinte Alea anerkennend und suchte gleichzeitig die Straßen, Menschen und Häuser nach Anzeichen ihrer Freundin ab. Dabei ignorierte sie Bens skeptisch-verwirrte Reaktion auf ihr Kompliment.

„Teilen wir uns auf", schlug Ben vor, als sie kurz darauf zu einer Kreuzung kamen. Das taten sie.

Alea nahm die Straße, die ins Landesinnere führte, Ben die zum Meer. Die Häuser wurden hier kleiner und heruntergekommener, die Straßen gröber und pflanzenüberwachsener. Offensichtlich war es das Viertel am Strand, in dem die wohlhabenden Leute wohnten. Hier, wo es die bergige Landschaft hinaufging, wohnte man nur, weil man sich nichts Besseres leisten konnte.

All diese Infos nahm Alea automatisch auf, beurteilte, ob sie relevant waren, sortierte sie wieder aus. Sie achtete auf Fußspuren, Geräusche oder andere Zeichen, die zu Tess führen könnten.
Je weiter sie in neue Straßen abbog, desto sicherer wurde sie sich, dass der Rückweg kein leichter sein würde. Den Weg merkte sie sich nicht, denn sie wusste, dass sie ihn ohnehin nicht finden würde, sobald der Elvarion-Modus abgeklungen war. Die Häuser mit ihren dreckig weißen Fassaden sahen alle gleich aus! Wie sollte sie nur jemals den Weg zurück finden? Wie würde es Tess schaffen? Würde sie sich verlaufen, hatte sie es vielleicht schon? Die meisten Leute hier waren alt, genauso wenig wie sie Englisch sprachen, konnte Alea einen Brocken Portugiesisch. Ein Handy hatte sie auch nicht, denn es gab an Bord nur drei: Das von Tess, Bens und ihr eigenes. Ihres war auf der Crucis, beschützt von dem Skorpionfisch. Vielleicht rief Tess irgendwann bei Ben an, wenn die Nacht anbrach und sie immer noch nicht da war. Doch wollte sie das überhaupt? Würde sie Tess vielleicht nie wiedersehen? Was, wenn es auch keinen Empfang gab? In der Stadt vielleicht, aber auf der schier endlosen Straße zwischen hier und dem nächsten Ort, von dem Ben erzählt hatte, sicher nicht.
Mit der Zeit ebbte nun der Elvarion-Modus ab, sie war mehr und mehr auf sich selbst gestellt. Schnell und lautlos, um Tess eventuell noch einzuholen, drang sie immer tiefer in die Stadt ein, bald würde sie aber das Ende erreicht haben. Ihre Suche wurde immer hoffnungsloser.

Nach einer halben Stunde wollte Alea aufgeben und umkehren. Die Suche hatte keinen Sinn mehr. Tess war nicht hier, wahrscheinlich hatte Ben sie schon gefunden. Aber wie durch ein Wunder hörte sie in dem Moment, im dem sie sich umdrehte, ein Geräusch. Leises Weinen. Tess!

Alea scheute sich davor, nach ihr zu rufen. Was, wenn sie dann nur noch mehr weglief? Außerdem hatte sie immer noch eine Heidenangst vor Orions Leuten. Durch Rufe machte sie auf sich aufmerksam. Und selbst wenn keiner von ihnen hier war: Wusste der Teufel, wer sich hier noch so rumtrieb. Solchen Leuten wollte sie auf keinen Fall in die Hände fallen! Hoffentlich war auch Tess keinen dieser Menschen begegnet...

Also blieb ihr nur eines: Leise der Spur auf den Grund gehen. Lautlos, wie Lennox es ihr beigebracht hatte, huschte sie die Straße hinunter zu der Stelle, aus der das Schluchzten gekommen war.
Überrascht stellte sie fest, dass das Dorf hier endete. Der unpraktische Kopfsteinpflaster ging in einen Feldweg über, der von hohen Pflanzen umrandet war, deren Blätter in der Spätsommerhitze vertrockneten. In der leichten Brise zerfielen sie in kleine, braune Bruchstücke.
Alea folgte ihm, wobei weitere leise Geräusche ihr den Weg wiesen.
Nach nur hundert Metern stieß sie auf einen schmalen Wasserlauf, der wohl hier in den Bergen entsprang und irgendwo weiter südlich in den Atlantik mündete. Sein Flussbett war von der Wärme schon ganz seicht, kein einziges Lebewesen fand sich darin. Auch Isibellen würde es hier keine geben. Keine Magischen, die ihr bei der Suche helfen konnten.
Nach kurzem Zögern entschloss sie sich, diesem Bach zu folgen.

Einige Abzweigungen später wurde sie fündig.
Tess saß unter einer hölzernen Brücke und weinte, das Akkordeon neben sich abgelegt. Was für eine Ironie.

Als Alea absichtlich oder zufällig auf einen Ast trat, schrak das Mädchen mit den Dreadlocks auf. Ihre Blicke begegneten sich. Unendlicher Schmerz und Verzweiflung standen in Tess' Augen geschrieben.
Der Elvarion-Modus war vollständig abgeklungen. Die Emotionen drängten sich in ihrem Körper hoch. Eine Träne lief über ihre Wange. Noch eine. Gefolgt von hundert weiteren.
Alea weinte. Heulte. So, wie sie es schon länger nicht getan hatte. Aber sie lächelte. Endlich hatte sie sie gefunden.

Alea Aquarius - Die Magie der SchwesternWo Geschichten leben. Entdecke jetzt