70 - Valerianer

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Auf dem Rückweg kauften sie noch schnell Lebensmittel ein und erzählten Tiara alles, was passiert war.

„Und du konntest wirklich nichts tun?", fragte sie. Alea musste den Kopf schütteln.

„Ich war noch geschwächt und konnte den Umhang nicht anfassen, ohne Schmerzen zu erleiden. Das Einzige, was Haruko machen konnte, war Cassaras zu verbannen. Wir waren nur zwei Landgänger, eine geschwächte Nixe und ein geschwächtes Meermädchen; es gab nichts, was wir ausrichten konnten. Cassaras wäre zu stark für uns, ein Kampf wäre fatal ausgegangen."

Tiara nickte mit gesenktem Kopf. „Ihr habt getan, was ihr konntet. Fühl' dich deswegen nicht schlecht. Wir sollten nach vorne gucken und schauen, wie wir ohne den Umhang klarkommen."

An der Crucis angekommen, räumte die Cru schnell ihre Einkäufe ein und setzte dann die Segel. Es war gefährlich, sich lange als getarntes Schiff in so einer belebten Gegend aufzuhalten, und sie wollten ihr Glück nicht überstrapazieren. Je schneller sie aus dem Adriatischen Meer kamen, desto besser.

Einen genauen Plan, wohin sie nun segeln sollten, hatten sie allerdings noch nicht. Ben überlegte, ob sie jetzt sofort zu Nelani und Keblarr fahren sollten, aber dafür bräuchten sie erst einmal eine neue Nachricht von den beiden. Deswegen verbrachte Alea den Rest des Tages an Deck, um nach Wanderernachrichten Ausschau zu halten. Es dämmerte bereits, anscheinend hatte sie zwei Stunden bei Haruko verbracht. Es machte ihr nichts aus, dem kühlen Wind ausgesetzt zu sein. Sie hatte noch genug, worüber sie nachdenken musste. Sowohl die Begegnung mit Haruko und Cassaras, aber auch Mariannes Tod. Natürlich. Sie wusste erst seit wenigen Tagen davon, und die Wunden standen noch immer offen. Aber sie wollte sie nicht nur noch mehr zum Bluten bringen, indem sie stundenlang darüber nachgrübelte, stattdessen überlegte sie, was die Zukunft wohl bringen würde. Als erstes auf ihrem Plan stand auf jeden Fall, ihre Eltern wiederzutreffen und dann mit Nelanis Hilfe das Heilmittel herzustellen, welches sie höchstwahrscheinlich an Lennox und Keblarr testen würden. Dann mussten sie die Meerkinder zusammensuchen, um eine Armee gegen Orion aufzubauen.
Alea seufzte. Das klang so viel unkomplizierter, als es wahrscheinlich sein würde. Selbst der erste Punkt auf ihrer Liste schien im Moment noch unerreichbar zu sein. Dann kamen noch weitere Probleme: Was war mit Elena geschehen? Würde Cassaras die Alpha Cru vorerst in Ruhe lassen oder würde er sie verraten und sogar angreifen? Wo konnten sie sich sicher mit ihren Eltern treffen? Konnten sie sicher aus dem Mittelmeer hinauskommen? Und wo würden sie überhaupt die Meerkinder unterbringen, wenn sie diese aufnahmen?

Diese ganzen Probleme waren überwältigend, und Alea atmete ein paar Mal tief durch, um diesen Gedanken zu entkommen. Sie würden es schon schaffen. Irgendwie. Solange sie sich auf das konzentrierten, was im Moment wichtig war.

Gerade war das die Nachricht, die sie von ihren Eltern erhalten würde. Den ganzen Tag hielt sie Ausschau danach, und ihre Suche sollte auch belohnt werden. Die Sonne war gerade hinterm Horizont verschwunden und ein kühler Wind fegte übers Meer, da entdeckte Alea das leuchtende Oval, das aus dem Süden auf sie zukam. Schnell rief sie Tiara herbei, hangelte sich über die Reling und pfiff die Wandererbotschaft zu sich heran. Nur wenige Augenblicke später gesellte sich ihre Zwillingsschwester zu ihr. Der Platz auf der Außenleiter war begrenzt, also konnten sie sich nicht hinsetzen, sondern zwängten sich mit jeweils einem Fuß auf den unteren Sprossen auf die Leiter.

Währenddessen näherte sich die Nachricht vorsichtig, bis sie sich sicher war, wo sich ihr Empfänger befand. Zur Hilfe plätscherte Alea noch ein wenig im Wasser, und das leuchtende Oval hielt vor den beiden an, nur um sich kurz darauf auseinanderzufalten.

Zu sehen waren wieder Nelani und Keblarr, die an einem Steg zu sitzen schienen. Beim genaueren Hinsehen bemerkten sie, dass Tränen in den Augen ihrer Eltern schimmerten. Nach kurzem Warten begann ihre Mutter zu sprechen:

„Alea, Tiara", schluchzte sie getroffen, hatte aber dennoch ein hoffnungsvolles Lächeln auf den Lippen. „Ich bin so froh, dass ihr euch gefunden habt! Nie hätte ich mir erträumt, dass wir dich so einfach aufspüren könnten, Tiara."
Neben ihr nickte Keblarr, auch er konnte seine Tränen kaum zurückhalten. „Ich kann es noch gar nicht so richtig fassen. Ich hatte schon befürchtet, dieser Doktor Orion hätte dich gefasst und verschleppt, aber zum Glück hat dich Alea vor ihm gefunden. Hoffentlich können wir uns auch bald treffen."

Alea schaute vorsichtig zu ihrer Schwester hinüber, um ihre Reaktion zu sehen. Tiara hatte die Lippen aufeinandergepresst und krampfte ihre Hand fest um die Sprosse. Vermutlich kämpfte sie mit ihren eigenen Emotionen.

„Wir sind kurz nachdem wir unsere Nachricht abgeschickt haben nach Schweden geflogen, da wir uns nicht zu lange in der Nähe von Orion aufhalten wollten", informierte Nelani sie nun. „Die Überlebenden konnten wir leicht mit Hilfe einer Finde-Finja aufspüren. Es wäre schön, wenn ihr hierherkommen würdet, dann könnte ich endlich das Heilmittel fertigstellen." Daraufhin nannte sie ihnen eine Region, die sich nach Nelanis Beschreibung an der Nordspitze des Bottnischen Meerbusens befand, was wohl der nördlichste Teil der Ostsee war, der zwischen Finnland und Schweden lag.

Ihre Mutter drehte sich kurz um, anscheinend hatte sie einige Personen gehört.

„Wir müssen gleich aufhören, dort hinten kommen einige Touristen auf uns zu."

Keblarr schaute nun ebenfalls nach hinten, blickte dann aber etwas gehetzt ins Bild.

„Tiara, zu deiner Frage, welchem Stamm deine Freundin Elena angehört..."

Alea sah Tiara überrascht an. Sie hatte gar nicht gesagt, dass sie ihre Eltern nach Elenas Herkunft gefragt hatte. Aber es machte Sinn. Nelani und Keblarr waren das genauste Meermenschenlexikon, zu dem sie Kontakt hatten, es wäre dumm, diese Gelegenheit nicht zu nutzen.

„Nach den Dingen, die du über sie gesagt hast, ist es wahrscheinlich, dass sie eine Valerianerin ist." Alea horchte auf. Valerianer? Sie meinte, sich an diesen Begriff erinnern zu können, ihre Mutter hatte ihn einmal erwähnt, als sie Meermenschenstämme aufgezählt hatte.

„Die Valerianer waren ein relativ selten gewordener Stamm. Sie stammten ursprünglich aus Skandinavien und hatten meistens blauviolette bis lilafarbene Augen, helle Haare und blasse Haut. Ihre Fähigkeit war das Manipulieren von Landgänger über ihre Stimme und Augenkontakt oder ihren Gesang, sie waren damit die Wurzel des alten Glaubens an Meerjungfrauen. Ihre Aufgabe in der Meerwelt war, die Landgänger davon abzuhalten, Verbrechen gegen die Natur und das Meer zu begehen, indem sie sie mit ihrem Gesang verzauberten oder sie simpel mit ihren Worten und einem tiefen Blick in die Augen überzeugten. Vor der großen Wende, als die Landgänger alles vergessen sollten, half eine Familie der Valerianer einer großen Gruppe Skorpionfische aus einem heute unbekannten Problem, wodurch sie von den Magischen gesegnet worden sind. So entstanden meistens die einzelnen Meermenschenstämme: Alte Familien halfen den Magischen, wodurch sie gesegnet worden sind. In der nächsten Generation dieser Familie veränderten sich die Eigenschaften ihres Stammes, und ein neuer wurde geboren. So wurde aus den Wanderern, die Seh-Saffieren halfen, die Roix. Die Fähigkeit der Wanderer, Farben im Wasser zu sehen, wandelte sich so ab, dass sie einen Innensichtblick besaßen, der dem der Seh-Saffiere ähnelte. Im Falle der Valerianer war es so, dass die Kinder nun schwarze Haare und azurblaue Augen hatten, und wie die Skorpionfische unauffällig waren. Die Fähigkeit, Menschen durch Worte und Augenkontakt zu beeinflussen, wandelte sich zur Vergessensfähigkeit ab. Der Stamm der Oblivionen war geboren, der nun half, die Erinnerungen aller Landgänger an die Magie auszuradieren, aber den Rest der Geschichte kennt ihr ja. Was die Valerianer anging, deren Kräfte waren nun heikler, da sie die Menschen nicht vergessen ließen, also wurden sie viel seltener. Es wurden häufig viel mehr Oblivionen als Valerianer in den Familien geboren, und das Valerianer-Gen war bei der Geburt eines gemischten Kindes selten dominant. Ihr könnt euch also glücklich schätzen, dass ein Mitglied dieses Stammes überlebt hat." Er wandte sich ein weiteres Mal um.

„Wir müssen jetzt gehen", sagte Nelani, und blickte liebevoll ins Bild. „Ich hoffe, wir können uns bald treffen!" Dann wiederholte sie zur Sicherheit die Region, in der sie sich befanden.

„Möge euch ein guter Wellenschlag begleiten!" Keblarr wiederholte diese Worte, dann verblasste das Bild.

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Das ist meine Interpretation der Valerianer, und wie die Meermenschenstämme allgemein entstehen. ^^ Wie stellt ihr euch das vor? Unter welchem Stamm hättet ihr Elena vermutet?

Alea Aquarius - Die Magie der SchwesternWhere stories live. Discover now