57 - Wunsch nach Wiedersehen

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Natürlich erwartete sie eine kleine Standpauke von Ben, als sie den Salon betrat. Nachdem sie diese hinter sich gebracht hatte, konnte Alea den dreien unter Deck von ihren Eltern erzählen.

„Nelani hat Keblarr gefunden?", rief Sammy übermütig. Er hatte Nelani während ihrer Zeit auf der Crucis rasch ins Herz geschlossen, fast wie eine zweite Mutter. Natürlich freute er sich riesig darüber. „Das ist ja wunderbärchen!" Er sprang auf und tanzte in seinem ulkigen Wespentanz über die Planken, während Ben und Lennox Alea weiter ausfragten.

„Sie sind im Moment auf dem Weg nach Schweden und wollen sich so schnell wie möglich mit uns treffen", klärte Alea die beiden auf. „Tiara und ich haben ihnen sofort geantwortet und gesagt, dass wir auf dem Weg nach Venedig sind. Wir könnten uns dort treffen."

Ben überlegte. „Dafür müssten wir uns aber sicher sein, dass Orion nichts von ihnen weiß. Das Risiko, dass die beiden heimlich verfolgt werden, ist viel zu groß. Im Moment haben wir noch einen Vorteil ihnen gegenüber, aber er könnte jeden Moment auftauchen. Es wäre schlecht, wenn wir deine Eltern da mit reinziehen würden, da sie – abgesehen von Cassaras – in dem Fall unsere einzige Rettung wären."

Lennox stimmte ihm zu. „Ich fände es auch besser, wenn wir erst einmal nach Venedig segeln, uns anschauen, warum die Silberfäden uns dorthin geschickt haben und dann zurück nach Nordeuropa segeln. Jetzt im Moment ist Orion uns viel zu nahe, als dass wir uns mit irgendwem treffen könnten."

„Aber dann findet ihr euch wieder!", versprach Sammy theatralisch und wirbelte dramatisch über den Boden. „Dann seid ihr wieder vereint, als die letzte Meerfamilie, die dem schicksalhaften Schicksal der Meermenschen ein Ende bereiten wird und eine neue Ära aufleben lässt!"

Während seines poetischen Vortrags betrat Tiara den Salon und sah so aus, als würde sie am liebsten sofort wieder umdrehen. Wortlos stahl sie sich an dem Jungen vorbei, schnappte sich ein paar Klamotten aus ihrer Tasche und verschwand im Badezimmer. Ben strafte sie mit ein paar tadelnden Blicken, sagte jedoch nichts.

„Wir müssen dafür aber sichergehen, dass wir aus Orions Reichweite sind", versuchte Lennox, sie wieder aufs Thema zurückzubringen. „In einer Woche könnten wir theoretisch überall sein, dann weiß Orion nicht, wo er suchen soll. Wir sollten uns frühestens dann mit euren Eltern treffen."

„Gut." Alea nickte bestätigend.

„Schade", meinte Sammy allerdings. „Ich will deine leiblichen Eltern viel lieber früher treffen, ich habe deinen Vater doch kaum kennengelernt!"

Alea konnte ihn gut verstehen. Auch sie kannte ihre Eltern noch nicht einmal halb so gut, wie sie es gerne hätte. Vor allem ihren Vater hatte sie noch gar nicht kennengelernt, nicht sein...wahres Ich. Nur die Trauergestalt, die elf Jahre lang in einer Quelle vor sich hinvegetiert hatte. Sie wollte ihre Eltern gemeinsam erleben. Wie es war, einen Ausflug mit ihnen zu erleben, wie man mit ihnen gemeinsam frühstückte, wie sie sich neckten und über die Späße des anderen lachten. Mit einem Mal fühlte Alea ein beklemmendes Stechen in ihrer Brust. Sehnsucht. Neid. Tiara hatte das alles gehabt, Tess und die Brüder ebenfalls. Sie hatte zwar Marianne gehabt, die für sie immer wie eine Mutter gewesen war. Aber ihre leiblichen Eltern... Das war bestimmt ein ganz anderes Gefühl. Ein Gefühl der Normalität. Etwas, das sie wohl nie haben würde.

Lennox setzte sich neben sie und legte vorsichtig einen Arm um ihre Schulter, ließ ihr wie immer Zeit, ihn abzuwehren. Alea schmiegte sich eng an seine Seite. Lennox schien ihre Gefühle zu erraten, interpretierte sie aber wohl falsch.

„Keine Sorge, du wirst sie bestimmt bald wiedersehen", versuchte er, sie zu beruhigen. „Eine Woche ist nicht die Welt. Wir schauen uns Venedig an, demonstrieren gegen ein paar Kreuzfahrtschiffe, machen eine kleine Tour in den Gondeln und dann segeln wir zu ihnen."

„In einer Woche kann viel passieren", murmelte Alea, deren Stimmung sich durch Lennox' Einwand noch mehr verfinstert hatte. In einer Woche hatten sie die Highlands durchquert, hatten sie Doktor Orion kennengelernt, wurden von ihm belogen, eingesperrt und sind geflohen... Alea hatte Angst vor einer Woche.

„Was ist denn hier für eine Trauerstimmung?", wollte da jemand anderes empört wissen. Alea hob den Kopf. Es war ihre Schwester. Sie hatte doch kein zweites Mal geduscht und stand jetzt in Tanktop und Schlabberhose, mit vor der Brust verschränkten Armen im Türrahmen.

„Genau!" Sammy hüpfte zu Alea hin. „Komm, Schneewittchen! Erinnere dich an deine Begeisterung von eben. Du sollst doch nicht an alles denken, was schiefgehen könnte, bevor dein Kopf schon jetzt Schiffbruch hat, das weißt du doch!"

Er nahm ihre Hände und zog sie mühselig hoch.

„Komm, wir müssen jetzt etwas Großartiges machen!"

Alea seufzte und Lennox stimmte mit ein.

„Ich glaube, ich brauche erst einmal Schlaf", lehnte Alea ab. „Mach doch etwas mit Tiara, die freut sich bestimmt." Mit einem schelmischen Lächeln zog sie sich ins Bad zurück. Beim Vorbeigehen knuffte Tiara sie mit dem Ellbogen in die Seite. Kaum hatte Alea die Tür geschlossen, hörte sie Sammys Quieken, als Tiara ihn wohl kitzelte. Vielleicht sah sie doch irgendwie ihren kleinen Bruder in ihm. Alea war froh, dass sich das Verhältnis der beiden gebessert hatte.

Auch am nächsten Tag gab es keine Anzeichen von Orion. Sammy bettelte daher unentwegt, ob sie Aleas Eltern nicht doch früher treffen konnten. Doch bis jetzt hatten sie noch keine Antwort von Nelani erhalten. Wie auch? Keiner von ihnen wusste zwar, wie lange dieser Wanderernachrichten brauchten, doch von Italien bis Skandinavien und wieder zurück war es keine kurze Strecke.

„Hast du eigentlich schon etwas von Elena gehört?", fragte Ben stattdessen Tiara, die gerade mit Tess zusammen ihre erste Wache hatte. Diese schüttelte nur den Kopf. „Gleich nachdem wir Spanien verlassen haben, hat sie mir geschrieben, dass sie wohl überwacht wird, ihr Handy abgeben muss und ich sie nicht kontaktieren soll, ansonsten ist da nichts." Man hörte an dem Zittern ihrer Stimme, dass sie sich Sorgen machte, auch wenn ihr Pokerface wie immer undurchdringlich war. Alea hätte sie gerne umarmt, aber war sich noch immer unsicher, wie ihre Schwester das aufnehmen würde. Also sagte sie nur ein paar beruhigende Worte, und verließ das Deckshäuschen. Beim Weggehen hörte sie noch, wie Tiara Ben anbettelte, diese Nacht die erste Wache übernehmen zu dürfen.

Der Rest des Tages verlief ruhig, Alea backte Kekse, hörte Lennox beim Gitarre spielen zu und schrieb etwas in ihr Tagebuch. Beinahe langweilte sie sich. Sie wollte insgeheim, dass etwas passierte. Aber oh weh, wie sie diesen Wunsch bereuen würde...

Alea Aquarius - Die Magie der SchwesternWhere stories live. Discover now