82 - Befreiung

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Es krachte erneut an der Tür. Alea sprang hastig auf, obwohl sich dadurch ein Schwindelgefühl in ihrem Kopf breitmachte. Schnell warf sie einen kurzen Blick zurück zu der Kamera, um festzustellen, dass diese nicht mehr blinkte. Stattdessen war sie wie ein abgeschossener Vogel nach unten gesenkt, sodass die Linse nicht mehr in den Raum zeigte. Alea hatte schon eine Vorahnung, was gerade draußen geschah, trotzdem nahm sie vorsichtshalber den Stuhl (was etwas schwierig war, denn ihre Hände waren immerhin vor der Brust gefesselt) und hielt ihn vor ihren Körper. Auch wenn sie in ihrem geschwächten und kränklichen Zustand wohl keinen Sechsjährigen hätte umwerfen können.

Im nächsten Moment ging die Tür mit so einem Schwung auf, dass sie mit einem noch lauteren Knall an der Wand aufschlug, völlig ungehalten. Alea zerriss das Geräusch fast die Ohren, beinahe wäre ihr der Stuhl heruntergefallen. Mit großen Augen starrte sie nach draußen, wo außer der bekannten weißen Wand im ersten Moment nichts zu sehen war. Vorsichtig kam Alea von der Seite näher. Doch gleich darauf stolperte sie wieder zurück, als sie den Kopf sah, der auf dem Boden lag. Natürlich noch mit seinem Körper verbunden, zum Glück. Alea meinte, einen ihrer Wachen in ihm zu erkennen.

Sie schaute noch ein wenig weiter, denn der Mann schien bewusstlos zu sein. Nun kam eine Person um die Ecke, die vorsichtig über den leblosen Körper stieg. Voller Verblüffung stellte Alea fest, dass es Tiara war.

„Was machst du denn hier?", fragte sie, bemühte sich um eine gewisse Bissigkeit.

Tiara verdrehte nur die Augen und klopfte sich zufrieden den Dreck von den Händen. „Ich komme, um dich zu retten, Engelchen", murrte sie nur.

„Bitte was?", entfuhr es Alea noch überraschter und ließ den Stuhl nun endgültig fallen. Tiara wollte sie retten? Nachdem sie vor so kurzer Zeit erst die Seiten gewechselt hatte?

„Hast du nicht richtig gehört?" Tiara verdrehte abermals die Augen, kam zu ihr und schnitt mit einem Taschenmesser die Fesseln auf.

In Aleas Kopf ratterte es. Auf einmal legte sich ein Schalter um, und ihr Geist klärte sich. Der Elvarion-Modus hatte wieder eingesetzt! Leider war Alea viel zu verdattert, als dass sie sich darüber hätte freuen können. Wie sie erwartet hatte, ordnete ihr Kopf die Puzzleteile und brachte die Erkenntnisse ans Licht, die er vor einigen Tagen gewonnen hatte, sie aber nicht zeigen konnte. Tiara, Elena, Orion, Lennox; plötzlich machte alles Sinn!

„Du hast nie wirklich für Orion gearbeitet!"

„Ach, auch schon bemerkt?", murmelte Tiara. Wohl verdrehte sie ihre Augen nur deshalb nicht, da sie gerade in ihrer Tasche kramte. Plötzlich warf sie Alea etwas zu, die den kleinen Gegenstand nur mit Mühe auffing. Verblüfft stellte sie fest, dass es eine Packung Traubenzucker war.

„Ich kann mir vorstellen, dass du von den letzten Tagen sehr erschöpft bist. Du solltest schnell wieder auf die Beine kommen, wir haben noch ordentlich zu tun." Gleich darauf zog Tiara eine kleine Wasserflasche hervor, die Alea in nur einem Zug leerte.

„Immer langsam", kicherte Tiara. Sie ließ sich kurz Zeit, bis sich Alea ein paar Traubenzucker in den Mund gesteckt hatte.

„Was passiert hier eigentlich gerade?", wollte Alea nun endlich wissen. „Du stürmst einfach in den Raum hinein und befreist mich; woher der plötzliche Sinneswandel?"

„Fangen wir mal von vorne an", begann Tiara. „Aber nur kurz, wir haben nicht viel Zeit. Im Prinzip ist es so, dass ich nicht wirklich freiwillig zu Orion ging. Er drohte mir, Elena etwas anzutun, sollte ich nicht kooperieren. So als extra Motivation sozusagen."

„Also hast du nicht freiwillig diese Sachen getan?"

Tiara zog den Kopf ein wenig zwischen die Schultern. „Freu dich mal nicht zu früh, ich habe schon alles gemeint, was ich neulich zu dir gesagt habe."

Alea starrte betroffen zu Boden. Sie wollte sich entschuldigen, doch Tiara ließ sie nicht zu Wort kommen.

Schließe dich mir an und ich mache dich zur großen Elvarion. P.S., falls du es nicht tust, tu ich deiner Elena etwas an. So in etwa sah die Nachricht aus, die er mir zukommen ließ. Der erste Teil klang gut, sagen wir es mal so. Der zweite Teil war dann die ‚Überzeugung'..."

„Aber das erklärt immer noch nicht, weswegen du ihn jetzt verraten hast", warf Alea verwirrt ein und rieb sich die Handgelenke.

„Ich wusste anfangs nichts von Orions Plan und bin ihm blind gefolgt – teils aus Angst", erklärte Tiara. „Als ich aber erfuhr, was er euch antun würde, habe ich ein ziemlich schlechtes Gewissen bekommen." Tiaras Stimme war leiser geworden, sie schämte sich wohl für ihre Taten. Das war wohl ein Fortschritt.

„Schließlich dachte ich mir, dass wenn ich euch alle befreie und ihr Elena in Sicherheit bringen könntet, es wohl besser wäre, als euch alle leiden zu lassen."

„Waren wir dir jetzt auf einmal doch wichtiger als Elena?", wollte Alea verwundert wissen. Den Anschein hatte es doch sonst nicht gemacht!
Tiara quittierte das nur mit einem leichten Schlag gegen Aleas Schulter.

Dios mío, Alea, du bist immer noch meine verdammte Schwester!"

Das schmeichelte Alea dann doch und sie sah verlegen zur Seite.

„Außerdem haben wir sicher noch Zeit, bevor Orion dazu kommt, Elena etwas anzutun. Sie als Valerianerin ist doch sehr wertvoll für ihn, es könnte genauso gut nur ein Bluff sein."

„Wer ist denn eigentlich hier?", wechselte Alea das Thema.

„Unsere Eltern, ein paar Überlebende aus Schweden, eine Reihe Magische aus der Nähe und Cassaras."

Alea riss perplex die Augen auf. „Cassaras?", wiederholte sie ungläubig. „Hasst er uns denn nicht? Warum hilft er uns auf einmal?"

Tiara konnte nur mit den Schultern zucken. „Keine Ahnung. Deine Mutter hat anscheinend eine ausgezeichnete Überzeugungsgabe." Dann wandte sie sich zum Gehen und winkte Alea hinter sich her. Diese erinnerte sich kurz an Nelanis Silberfadenvision: Cassaras mit dem Umhang, wie er im Wasser schwamm. Aber sie schob den Gedanken beiseite, und hielt ihre Schwester an der Schulter zurück, die sich verwirrt umdrehte.

„Tiara, sie ist auch deine Mutter."

Und Tiaras verwirrter Gesichtsausdruck verwandelte sich in eine Mischung aus Reue und tiefer Dankbarkeit.

Alea Aquarius - Die Magie der SchwesternWhere stories live. Discover now