88 - Neustart

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„Ich hatte dich echt falsch eingeschätzt, tut mir leid", sagte Alea am nächsten Morgen zu Tiara. Diese hatte sie nur ein paar Mal zusammen mit Ben oder Nelani besucht, wodurch die Schwestern noch keine Zeit gehabt hatten, sich allein zu unterhalten.

„Eigenartig", meinte Tiara. „dabei wollte ich mich gerade bei dir entschuldigen." Sie setzte sich seufzend auf die Bettkante. „Immerhin war ich es, die euch sozusagen verraten hat."

„Aber du hast deine Entscheidung bereut und uns zur Flucht verholfen!", beschwichtigte Alea. „Außerdem hattest du kaum eine Wahl. Du hast mir doch erzählt, wie er dir mit Elena gedroht hat. Ich hätte bestimmt genauso gehandelt."
Tiara schaute betreten zur Seite.

„Es ist aber wirklich so, wie in diesem Sternbild vorhergesagt", murmelte sie nach kurzem Schweigen, wobei sie ein leichtes Lächeln nicht verbergen konnte. „Triangulum, das Dreieck. Kurzzeitig das Dreieck zwischen dir und Lennox, dann die Entführung vor Sizilien und schließlich der Wechsel zwischen der guten und der bösen Seite." Sie schüttelte den Kopf, als konnte sie es selbst kaum fassen. „Warum passt das bloß so perfekt?"

„Schicksal", entgegnete Alea nur, was Tiara ein Kichern entlockte.

„Ja klar." Dann wurde sie wieder leiser. „Vielleicht ist es wirklich so."

Wenn Sammy das nur hörte! Alea konnte sich vorstellen, was für Späße er machen würde, jetzt wo Tiara doch an Schicksal glaubte – oder zumindest teilweise.

„Was Elenas Name wohl gewesen wäre?", murmelte Tiara, wohl mehr zu sich selbst.

„Was ist eigentlich mit Elena?", wollte Alea wissen, auch wenn sie ihre Schwester nicht verängstigen wollte. Wenn sie ehrlich war, wollte sie die Antwort am liebsten selbst nicht wissen. Orion würde sich sicher bei Tiara für ihren Verrat rächen, und Elena war von vorneherein das Druckmittel gewesen. Nicht auszudenken, was er ihr antun könnte.
Tiara kniff die Augen zusammen, als hätte sie sich über diese Frage schon viel zu lange den Kopf zerbrochen.

„Das habe ich mich auch schon gefragt", sagte sie und seufzte. „Ben meinte, er hätte sich bereits darum gekümmert, hat bislang aber keine Details erwähnt."

Alea runzelte die Stirn. Was konnte Ben denn machen? Sie versuchte sich zusammenzureimen, was es für Möglichkeiten gäbe, doch ihr viel nichts ein. Was wohl größtenteils auf ihren noch immer trägen Geist zurückzuführen war.

„Hoffen wir einfach, dass ihr nichts passiert", schloss Alea dann das Thema, um ihnen die Stimmung nicht allzu sehr zu vermiesen.

Tiara nickte nur, straffte die Schultern und blinzelte mehrmals, um das feuchte Glänzen ihrer Augen zu vertreiben. Nach einem Räuspern setzte sie wieder ihren normalen, absolut neutralen Gesichtsausdruck auf, auch wenn ihr trüber Blick nach wie vor ihren eigentlichen Gefühlszustand verriet. Alea verkniff sich, sie nochmal darauf anzusprechen.

Stattdessen setzte sie sich auf und kreiste langsam ihre Schultern. Prüfte vorsichtig, wie sehr sie sich schon wieder bewegen konnte. Zwar fühlte es sich immer noch so an, als hätte man jede Muskelfaser einzeln durchtrennt, aber gerade quoll neuer morgendlicher Elan in ihr auf und sie wollte unbedingt aufstehen. Auch wenn ihre letzte Begegnung mit dem Wasser alles andere als gut ausgegangen war, wollte sie ihren alten Freund gerne wiedersehen.

Tiara half ihr beim Aufstehen, und einen Arm um ihre Schwester geschlungen machte sich Alea im weißen Nachthemd auf dem Weg in den Salon. Von dem langen Liegen und den anderen, äußerst unbequemen Tagen davor schmerzten ihre Gelenke und sie musste aufpassen, dass ihr die Beine nicht einfach einknickten.

Letztendlich schafften sie es zum Badezimmer, ohne dass sie auf jemanden trafen. Der Rest der Alpha Cru inklusive ihrer Besucher musste wohl an Deck sein, was eigentlich nur auf gutes Wetter schließen ließ. Alea nahm Schritte und Stimmen wahr, wie so oft an Tagen, an denen alles normal war. Wenn man denn irgendetwas in diesem Sommer als „normal" betiteln könnte.

Tiara begleitete sie als erstes in das kleine Badezimmer, um Alea noch ein wenig zu helfen. Diese war ganz überrascht von dem plötzlichen Wandel ihrer Schwester. So fürsorglich hatte sie sie noch nie erlebt!

Als Alea in den Spiegel sah, erschrak sie. Kein Wunder, dass ihr alles wehtat. Überall auf ihrer Haut waren kleine Schnitte, ihr linkes Auge war leicht geschwollen und lila gefärbt. Zum Glück waren keine Wunde tief, sie würde also kaum Narben davontragen.

Erst jetzt hatte Alea Gelegenheit, sich ihre Arme und Beine anzuschauen. Dort zeigten sich deutlich die Markierungen der Leine, in der sie sich verfangen hatte. Ihre Arme und Beine wiesen mehrere blutunterlaufene Kerben auf, wo sich der Strick in ihre Haut gegraben hatte. Ihre Beine hatte viele, dafür feinere Striemen, während die an den Armen durch ihren Überlebenskampf tiefer waren. Auch ihr Hals besaß einen solchen Striemen, der zum Glück nicht tief genug war, um ihre Stimmbänder oder gar ihre Luftröhre stark zu schädigen. Diese Wunde war wohl die gruseligste, als wollte der Tod selbst sie daran erinnern, dass sie ihm auf der Schwelle nur knapp entkommen war.
Alea fasste sich instinktiv an die Wunde und fragte sich, ob sie bleibende Narben hinterlassen würde. Wie ein Brandmal, dass sie auf ewig daran erinnern würde, dass sie den Klauen des Todes schon so oft entflohen war.

Alea wurde aus diesen Schauergeschichten gerissen, als Tiara ihr die Arme von hinten um den Hals schlang, darauf bedacht, dass sie sich nicht zu sehr auf ihre Schwester stützte und die Wunden reizte. Vorsichtig legte sie dann ihren Kopf auf Aleas Schulter ab. Jetzt, wo ihre Gesichter so nah beieinanderstanden, war ihre Ähnlichkeit noch verblüffender. Alea hatte keinen Zweifel daran, dass Orions Plan, Alea durch Tiara zu ersetzen, problemlos aufgegangen wäre.

„Du, ich glaube, wir sind Zwillinge", scherzte dann auch Tiara und sie kicherten leise. Tiara ließ ihren Blick langsam über Aleas Wunden gleiten und diese merkte, wie sich etwas in dem Blick ihrer Schwester veränderte.

„Es tut mir leid."

„Wa-", wollte Alea fragen, denn sie wollte nicht, dass Tiara sich auch noch die Schuld an diesem Unfall gab. Aber ihre Schwester unterbrach sie.

„Einfach alles. Ich war von Anfang an so unfair zu dir, ich war so gemein zu euch allen."

Sie stoppte, doch Alea wusste, dass das noch nicht alles war. Tiara löste ihren Blick von dem Spiegelbild und schaute zur Seite, während sie an einem losen Faden von Aleas Nachthemd knibbelte. Dann gab sie sich einen Ruck.

„Weißt du was? Ich brauchte einen Neustart. Alles noch einmal auf Anfang setzen. Seitdem ich euch kennengelernt habe, war ich nie wirklich nett zu euch und habe gemeine und unsensible Kommentare gemacht. Ich habe mich über euch lustig gemacht und war alles andere als dankbar für alles, was ihr für mich getan habt."
Ihr Blick verfestigte sich und sie schaute mit entschlossenem Blick ihr Spiegelbild an.
„Können wir einfach so tun, als wären die letzten Wochen nicht geschehen, und noch mal von Vorne anfangen?"

Sie machte eine kurze Pause und überlegte.

„Weißt du was? Nenn mich ab sofort Thea."

Aleas Augen weiteten sich.

„Thea klingt nicht so alt und komisch wie Anthea und ich habe immer noch das ‚T' am Anfang. Sagen wir es so: Die gemeine Tiara ist in Orions Villa zurückgeblieben und jetzt ist hier nur noch Thea, die sich Mühe gibt, nett zu anderen zu sein und nicht mehr so auf cool tut, nur damit sie unnahbar scheint."

Sie löste sich von Aleas Schultern und sie standen sich gegenüber. Alea musste lächeln, ihre Schwester erwiderte das Lächeln und streckte ihre Hand aus.

„Hi, ich bin Thea Triangulum. Freut mich echt riesig, dich kennenzulernen."

Alea ergriff die Hand.

„Hallo, Thea. Ich bin Alea Aquarius, deine Zwillingsschwester."


Alea Aquarius - Die Magie der SchwesternWhere stories live. Discover now