87 - Wiedersehen

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Alea hätte nie gedacht, dass sich so viele Silberfadenvisionen auf diesem kurzen Zeitraum erfüllen würden. Denn eines war klar: Dieser Müllstrudel war der aus Tiaras letzten Vision.
Dieser Gedanke war aber auch der letzte, bevor Alea endgültig in Panik verfiel. Sie hatte dieses eigenartige Déjà-vu-Moment, als wäre seit dem letzten Mal, dass sie sich in einem Müllstrudel verfangen hatte, keine Zeit vergangen. Als wären alle Geschehnisse zwischen diesen beiden Malen nichts als bloße Fantasien gewesen, die sie sich in ihrer Angst eingebildet hatte. Doch dieses Mal hatte sie dazugelernt. Ob wegen ihrer Erschöpfung oder ob sie tatsächlich einen Plan hatte, war ihr selbst nicht ganz klar, aber sie wehrte sich nicht zu stark gegen den Müll um sie herum. Sie strampelte nicht wild um sich und versuchte, ihren Atem zu beruhigen, damit kein Müll oder andere Giftstoffe durch ihren Atem in ihre Kiemen gelangen. Dabei hielt sie eine Hand auf ihren Kopf, damit sich nicht wie beim letzten Mal eine Plastiktüte einfach darüberstülpen konnte.
Trotz allem war es anstrengend und ihre Kraft war viel begrenzter als beim ersten Mal. Mit jedem scharfen Stück Plastik oder Metall, das an ihrer Haut kratzte und dort blutige Striemen hinterließ, wurde Alea schwächer. Sie musste sich etwas einfallen lassen, sonst war sie verloren.
Also versuchte sie, ganz ruhig zu sein und sich nicht zu bewegen. Dadurch glitt sie durch den Müll hindurch und war schon bald wieder vollständig unter Wasser. Allerdings war dieser Müllteppich dick, wodurch Alea gezwungen war, die Augen zu schließen, um diese zu schützen. Ihr Atem ging flach und sie spürte ihr Herz schnell in ihrer Brust klopfen. Überall war Abfall, sie war vollständig umzingelt. Das klaustrophobische Gefühl der letzten Tage holte sie wieder ein. Sie fühlte, wie sich alles um sie herum zusammenschnürte. Es hatte keinen Sinn. Auf diese Weise würde sie nie diesem Strudel entkommen. Reflexartig stoß sie sich an die Oberfläche und nahm schnappend Luft. Dabei stellte sie fest, dass das zuschnürende Gefühl mehr als nur ein Gefühl gewesen war. Sie hatte sich bei ihrem Auftauchen in einem Knäuel aus Maschen verfangen – wohl die Überreste eines Fischernetzes. Die weißen Schnüre hatten sich bereits um ihre Beine geschlungen, und beim Versuch, sie loszuwerden, wurde auch ihr linker Arm Teil dieses Gewirrs.
Nun verfiel Alea doch noch in Panik und ruderte hilflos mit ihrem verbleibenden Arm herum, wodurch sie sich aber nur einen fiesen Schnitt an einer leeren Konservendose einfing. Als sie daraufhin ihren Arm zu sich zog, schlang sich das Netz auch um ihren Oberkörper und ein Strick um ihren Hals. Alea keuchte. Versuchte verzweifelt, ihren rechten Arm wieder zu lösen und den tödlichen Strick zu lockern, doch durch ihre ziehende Bewegung schlang er sich nur noch fester um ihren Hals und drückte ihr die Luft fast vollständig ab. Sie konnte sich kaum noch bewegen, wodurch sie wieder unter Wasser gezogen wurde. Das verseuchte Salzwasser brannte in ihren Augen und ihre Sicht verschwamm. Sie konnte nun nicht einmal mehr sehen, wo die Stricke waren, um sie vielleicht mit einem der Metallstücke durchzutrennen, die ihr bereits so viele Schnittwunden zugefügt hatten. Auch spüren konnte sie sie kaum, nicht nur, da die Stricke ihr die Blutbahnen kappten, sondern auch, da das eisige Wasser ihre Gliedmaßen hatte taub werden lassen.

In diesem Moment dachte Alea an die ganzen Geschichten von Delfinen und Schildkröten, die andauernd solchen tödlichen Fischernetzen zum Opfer fielen. Auch an den Wal, den Alea einst aus so einem Netz befreit hatte. Es hatte eine gewisse Ironie, dass sie – die Walwanderin – in so einem Netz zugrunde ging.
Alea spürte, wie ihre Kräfte endgültig versagten. Dieses Mal waren keine Reserven mehr übrig, kein letzter Rest, der noch verblieb. Und mit der Hoffnung, dass wenigstens der Rest der Alpha Cru, ihre Eltern und ihre Verbündeten sicher zur Crucis zurückgekehrt waren, entglitt ihr das Bewusstsein.

Alea erwachte. War sie am Leben? Ihre letzten Erinnerungen waren verschwommen, aber sie war reichlich überrascht, aufgewacht zu sein. Wo war sie bloß? Sie blinzelte, wurde aber von dem Licht geblendet und kniff die Lider wieder zusammen. Beim Versuch, den Kopf zu wenden, stellte sie fest, dass ihr Körper unheimlich wehtat. Jede Muskelfaser schien zu schmerzen und unendlich schwer zu sein. Ein fader Geschmack lag ihr auf der trockenen Zunge und der Geruch von Meer und Holz hing in der Luft. Ohne sehen zu müssen, wusste Alea, dass sie auf der Crucis war. Endlich.
Sie atmete beruhigt aus. Kein Gehetze mehr, keine Gefangenschaft. Endlich Ruhe. Sie spürte, wie sich ihre Unterlage senkte und nahm Wärme neben ihrem Oberkörper wahr. Jemand musste sich neben sie gesetzt haben. Bis jetzt nahmen ihre Ohren jedoch nur ein undeutliches Gewirr an Stimmen und Geräuschen wahr. Sie versuchte, ihre Augen wieder zu öffnen. Blinzelte, um ihre Sicht zu schärfen und erkannte schon bald die dunkle Unterseite von Tess' Koje über sich. Als sie die Augen öffnete, sagte die Person neben ihr etwas. Aber ihr Kopf arbeitete noch zu langsam, um das Gehörte zu verarbeiten, wodurch sie nur die Stimme an sich wahrnehmen konnte.
Langsam und bedacht wandte sie den Kopf zur Seite, um die Person neben ihr zu erkennen. Dabei klärte sich das undeutliche Rauschen ihrer Ohren langsam auf, und allmählich erkannte Alea das Schwappen des Meeres, das von dem Bullauge in der Wand kam. Stimmen drangen durch die halb geöffnete Tür der Kajüte und man hörte Schritte über ihr an Deck.

Alea Aquarius - Die Magie der SchwesternWhere stories live. Discover now