51 - Wiedersehen

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Die Sonne war bereits untergegangen und Wolken waren aufgezogen, was die Nacht undurchschaubar machte. Alea hatte Wache und war die einzige an Deck. Obwohl es schwer gewesen war, hatte sie Lennox überreden können, schlafen zu gehen. Er hatte den Schlaf dringend nötig. Der Stress machte ihm zu schaffen und Schlaflosigkeit war dabei Gift für seinen Körper.
Es musste zwei Uhr nachts sein, als Alea plötzlich verdächtiges Plätschern aus der Richtung der Außenleiter vernahm. Ihre Augen weiteten sich, als sie hörte, wie jemand leise die Streben hinaufkletterte. Ihr gefror das Blut in den Adern. Reflexartig schlug sie sich die Hand vor den Mund, damit sie nicht schreien konnte. Sofort trat sie mehrere Male auf die Planken, das Zeichen für die anderen, augenblicklich nach oben zu kommen. Lennox kam in fast unmenschlicher Geschwindigkeit an Deck gerannt. Er entdeckte den Eindringling sofort und war zur Stelle.

"Alles gut, ich bin's doch nur", brummte da eine vertraute Stimme. Aleas Puls beruhigte sich und sie stieß den Atem aus, den sie unwillkürlich angehalten hatte. Es war Cassaras. Sie stellte den Autopiloten sowie den Annährungsalarm an und verließ das Deckshäuschen, um zu ihrem unerwarteten Besucher zu gehen. Als sie sich zu den beiden gesellte, hörte sie bereits Schritte an der Tür und Tess, Ben und Sammy kamen nach oben. Mit verstrubbelten Haaren, in Schlafanzügen und barfuß sollten sie sehr verschlafen aussehen, doch durch die Angst war ihr Blick glasklar und hellwach. Als sie aber nur Cassaras erblickten, beruhigten auch sie sich. Vor zwei Wochen wäre es ein genauso gruseliger Anblick gewesen, den Nixenprinzen auf ihrem Schiff zu sehen, doch seitdem hatte sich einiges geändert.

"Was machst du hier?", fragte Lennox misstrauisch.

"Ja, solltest du nicht bei Jisu in dieser Nixenstadt sein?", fragte Sammy.

"Ihr überschätzt das", winkte Cassaras ab und blinzelte, als einer von ihnen plötzlich eine helle Lampe einschaltete. " Ich habe auch noch andere Verpflichtungen und kann nur hin und wieder bei ihr vorbeischauen. Ich war nur ein paar Tage bei ihr und bin dann sofort wieder aufgebrochen, um euch zu suchen. Wisst ihr eigentlich, wie blöd ihr seid, euch durch eine Radiodurchsage auffliegen zu lassen? Das war unverantwortlich, ihr hättet besser aufpa-"

Er brach ab. Verwirrt schaute er Alea an. Kurz darauf begriff Alea, dass er nicht zu ihr schaute, sondern an ihr vorbei. Sie drehte sich um, und sah Tiara, die durch die Tür des Salons schaute und mit dem Arm das Licht abschirmte. Als sie Cassaras vor sich erkannte, schaute sie ihn perplex an.

Cassaras schaute ebenso perplex zurück. Er hob die Hände und formte Zeichen mit ihnen. "Ihr habt sie gefunden?", fragte er gleichzeitig.

Es dauerte etwas, bis Alea es realisierte. Cassaras kannte ihre Schwester! Er kommunizierte mit ihr über Gebärdensprache! Das hieß, dass er schon länger mit ihr in Kontakt stehen musste, wenn er sogar die Gebärdensprache für sie gelernt hatte. Es musste ebenfalls heißen, dass Tiara damals noch sehr jung gewesen sein musste, da sie irgendwann normal sprechen gelernt hatte und die Gebärdensprache nicht mehr benötigte. Es war einfach unglaublich. Wie hatte Cassaras ihnen so etwas verschweigen können? Wochenlang suchten sie nach Anthea, fragten sich, wo ihre Schwester denn sein mag, ja ob sie überhaupt noch lebte! Die ganze Zeit über hätte Cassaras sie zu ihr führen können. Hatte er nicht eben noch von unverantwortlich geredet? Dabei war er es, der sie nicht zu Tiara geführt hatte, obwohl die Crew sie dann schon ohne den ganzen Trubel in ihren Ferien hätte mitnehmen können!

"Ja, sie haben mich durch Zufall gefunden. Ich habe eine Nachricht von ihnen erhalten und wir haben uns getroffen", erklärte Tiara und machte gleichzeitig Zeichen mit ihren Händen.

"Du kannst normal sprechen", stellte Cassaras daraufhin fest. Verblüfft hörte Alea, wie Stolz in seiner Stimme mitschwang.

"Ich kann auch einigermaßen gut hören." Dieses Mal ließ Tiara die Zeichen weg.

"Woher kennt ihr euch?", wollte Lennox wissen. Er war noch immer misstrauisch, doch seine Stimme schwankte vor Verwirrung.

"Er war eine Zeit lang mein Betreuer", klärte Tiara ihn auf. "Als ich noch kleiner war, hatte ich einige Betreuer, die mir halfen, mich zurechtzufinden, da ich ja nichts hören konnte. Sie haben mich betreut, wenn meine Eltern keine Zeit hatten, auf mich aufzupassen. Er war sozusagen meine Nanny." Sie kicherte ein wenig, Cassaras verdrehte nur die Augen.

"Ich habe einige Formulare gefälscht und Gebärdensprache gelernt, damit ich herausfinden konnte, ob sie wirklich die Elvarion aus der Legende ist. Es war ein leichtes, sie mit Hilfe meines Rillings und der Visionen aufzuspüren. Dazu musste ich sie auch noch vor Orion beschützen und einige Akten verschleiern, da er anfangs plante, Tiara zu adoptieren. Er wollte sie nach seinem Willen aufziehen und so die Gefahr, die durch die Elvarion aus der Legende ausgeht, schon im Keim zu ersticken. Da ich aber natürlich wollte, dass du den Umhang vorher bekommst, musste ich das verhindern."

Alea riss erschrocken die Augen auf und wechselte einen Blick mit ihrer Schwester, die nicht minder entsetzt zu sein schien. Orion hatte geplant, sie zu adoptieren? Bei dem Gedanken wurde ihr ganz schlecht. Ein Leben unter Grezern, bei dem größten und gewissenlosesten Verbrecher der Welt? Aber es machte Sinn und passte zu dem Plan, den Orion ihr eröffnet hatte. In Island hatte er auch versucht, sie auf seine Seite zu ziehen und sie so unschädlich zu machen. Zwar war er damit ein gutes Jahrzehnt zu spät dran gewesen, doch dieser Plan war trotzdem fast aufgegangen. Sie hatte keine Ahnung, was wohl passiert wäre, wenn sie wirklich im Vertrauen an Orion aufgewachsen wäre. Hätte sie sich womöglich seiner Grezerarmee angeschlossen?

"Leider stellte ich nach einem Jahr fest, dass wir beide den falschen Zwilling erwischt hatten", fuhr Cassaras mit seiner Erklärung fort. "Tiara war Anthea und nicht Alea, dass sie die Falsche war, sah ich in einer Vision. Die echte Elvarion war nicht gehörlos und wuchs unter anderen Menschen auf. Zwar kannte ich Alea auch schon vorher und habe sie einige Mal besucht, aber ich war vorher fast sicher gewesen, dass ihre Schwester die richtige war. Ich sah in einer Vision, wie sie ihre Meermädchengestalt früh entdeckte und im Gegensatz zu Alea ohne Angst vor dem Wasser aufwuchs. Es erschien mir wahrscheinlicher, wenn sie auf ein Schiff gehen würde. Anders als bei ihrer Schwester, die das Wasser fürchtete. Dass sowohl ich als auch Orion falsch gelegen hatten, realisierte ich erst Jahre später, als mir mein Rilling Alea zeigte, die nach dem Herzinfarkt ihrer Pflegemutter auf das Schiff der Legende ging, auch wenn es mir idiotisch erschien."

Diese Bemerkung ließ Alea ausnahmsweise über sich ergehen. Sie war viel zu sehr damit beschäftigt, sich aus anderen Gründen über den Nixenprinzen zu ärgern. Jedes Mal, wenn sie dachte, er hätte ihnen alle seine Geheimnisse verraten, packte er gleich das nächste Set an Heimlichkeiten und Lügen aus!

"Und so verließ ich Tiara und Spanien. Die Behörden hätten mich sowieso irgendwann unter die Lupe genommen, also war es am Ende besser. Ich besuchte sie immer mal wieder, aber in den letzten Jahren fokussierte ich mich mehr auf Alea und mein doppeltes Spiel mit Orion."

An dieser Stelle schien seine Erklärung vorbei zu sein. Alea wollte ihm tausende Dinge an den Kopf werfen – den anderen ging es bestimmt auch so – doch er ließ sie gar nicht erst zu Wort kommen.

„Jetzt aber mal zu meinem eigentlichen Anliegen", wechselte Cassaras kopfschüttelnd das Thema, so als wäre nichts weiter geschehen. „Ich bin zu euch gekommen, weil Doktor Orion schon wieder eine Barrikade bauen will. Er will euch an der Straße von Gibraltar abfangen, da dort der engste Pass ist. Somit ist die Meerenge ideal, um euch einfach einzusammeln. Da dort sowieso viele Handelsschiffe sind, werdet ihr Schwierigkeiten haben, als unsichtbares Schiff dort durchzukommen, was es ihm noch einfacher machen wird. Ihr könnt also auf gar keinen Fall dort durchfahren!"

Der Ärger auf den Prinzen schwand ein wenig, wie immer war Alea erleichtert, dass er ihnen half. Aber wo sollten sie denn dann hinfahren? Die anderen wussten auf diese Frage auch erst keine Antwort. Da sagte Tiara spaßeshalber: „Dann lasst uns doch einen Kurzurlaub in Italien machen."

Da kam Alea die zündende Idee: „Wir müssen nach Venedig!"

Alea Aquarius - Die Magie der SchwesternWhere stories live. Discover now