77 - Teuflische Pläne

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„Ich muss schon sagen, die Kleine ist um einiges temperamentvoller als du", meinte Orion mit einem süffisanten Schmunzeln. Er hatte sich die ganze Zeit im Hintergrund gehalten und das Geschehen schweigend beobachtet. Nun wanderte Aleas Aufmerksamkeit zu ihm.

„Ach, halten Sie doch ihre Klappe", fuhr Alea ihn an, bevor die Angst vor diesem Mann die aufgewühlten Gefühle für ihre Schwester begrub.

„Du bist echt noch frecher geworden, seitdem ich dich das letzte Mal gesehen habe." Orion stieß sich von der Wand ab, an die er sich gelehnt hatte und ging mit langsamen Schritten zu ihr hin. Seine Selbstgefälligkeit löste wie immer ein Gefühl der Übelkeit in Alea aus. Aber vielleicht war das auch nur die Angst.

„Man könnte meinen, der Tod deiner Pflegemutter hätte deine scharfe Zunge gezüngelt."

Alea ballte ihre Hände zu Fäusten, ungeachtet der Schmerzen in ihren Handgelenken.

„Wagen Sie es ja nicht, Marianne je wieder zu erwähnen!", zischte sie. „Sie haben sie getötet!"

„Ich habe tausende getötet, Alea", erwiderte Orion unbekümmert. „Naja, Millionen trifft es wohl besser. Dazu zählen auch deine Verwandte, Lennox' Familie, meine eigene Familie und noch so viele andere. Was macht da eine gebrechliche Landgängerin?"

Alea erblasste. Der Fakt, dass vor ihr ein wahrhaftiger Völkermörder stand, war auch nach all diesen Wochen nicht ganz zu ihr durchgedrungen. Der Gedanke war auch einfach absurd. Wer würde schon denken, dass dieser Mann in Laborkittel und Schlabberhose eine ganze Zivilisation einfach so ausradiert und auf nur ein paar hundert Leute reduziert hatte?

„Da wirst du auf einmal still, was Alea?" Orion kniete sich vor ihr leicht hin, sodass er auf Augenhöhe mit ihr war. Sie wich seinem Blick aus. Vermied es, in seine Augen zu schauen. Diese Augen, hinter denen so viel Wahnsinn steckte.

„Hm, naja egal." Orion richtete sich seufzend wieder auf und streckte sich. Er ging wieder durch den Raum und lehnte sich an die Wand neben dem Fenster, das zu Lennox zeigte. Alea bemerkte, dass er sich so stellte, dass die Kamera sie beide filmte und Alea gleichzeitig den Blick auf Lennox ertragen musste, wenn sie mit dem Doktor sprach.

„Ich denke, Sie eröffnen mir wieder ihren neusten Geniestreich", murmelte Alea und versuchte, Orion nicht anzuschauen. Doch ihre Vorsicht machte ihr das schwer.

Orion lachte. „Du kennst mich schon ziemlich gut. Tatsächlich, ich wollte dir gerade erklären, was ich vorhatte. Wie in alten Zeiten."

Alea schauderte. Jedes Mal, wenn Orion ihr offen seinen Plan erklären wollte, um sein eigenes Ego an dem Leiden eines Mädchens zu pflegen, war er sich sicher, dass Alea nicht entkommen würde.

„Fangen Sie vielleicht damit an, wie Sie Tiara überhaupt auf Ihre Seite gebracht haben."

„Nun gut, wenn es das ist, was du wissen willst." Orion machte eine Geste, als wäre das Thema eins der weniger interessanten.

„Sicher erinnerst du dich noch an die Nacht, in der die Taucher auf euer Schiff gekommen sind."

Aleas Augen weiteten sich. Natürlich! Sie hatte sich sowieso gewundert, wieso sich die Landgänger so leicht besiegen lassen hatten. Tiara war seitdem auch noch komischer als sonst gewesen. Anfangs dachte Alea, das käme nur vom Schock, aber ihre erste Aufgewühltheit nachdem sie sie verraten hatte, war wohl der eigentliche Grund gewesen.

„Ich schickte ein paar unfähige Männer, die sich einfach nur leise auf euer Schiff schleichen sollten und Tiara eine Nachricht und eine Telefonnummer geben sollten. Ich hörte natürlich schon vorher, dass du deine Zwillingsschwester gefunden hast. Der Name Tiara García kam mir natürlich bekannt vor, immerhin plante ich anfangs, sie zu adoptieren." Er machte eine kleine Pause, wohl um seinen Worten Tiefe zu verleihen, aber da Alea diese Geschichte bereits kannte, ließ dieser Aspekt sie ziemlich kalt.
„Als ich von ihrem Verschwinden hörte und dass sie wohl ausgerissen war, kam mir das ziemlich verdächtig vor. Ich wusste sofort, dass ihr Ausriss nicht zufällig war, was mir einer meiner Männer bei der Polizei bestätigte. Da ich wusste, dass du nach deiner Schwester suchst, hatte ich bereits einige Leute in ihrer Umgebung stationiert, um euch dort abzufangen, wenn ihr dort aufkreuzt. Leider war ich dieses Mal ein wenig zu spät, fand euer Schiff allerdings in kurzer Zeit wieder. Ich ließ euch für einige Zeit beschatten und fand schnell heraus, dass Tiara sich nicht besonders gut mit euch verstand. Ich wusste schon durch frühere Beobachtungen, dass sie ein – wie soll ich sagen? – eher schwieriges Kind ist, das zänkisch und von viel Ehrgeiz besessen ist. Der Plan, sie als meinen Spitzel zu engagieren, kam mir daher schon viel früher. Diesen Plan umzusetzen, fiel mir umso leichter." Er lächelte selbstgefällig. Alea wollte ihm den Hals umdrehen.

„Tiara informierte mich alle paar Tage über euren Standort. Aber da ich noch mit anderen Projekten beschäftigt war und euch erst zwischen Spanien und Afrika abfangen wollte, und ihr ja erst in Venedig wart, griff ich nicht früher ein. Erst als sie mir sagte, ihr wolltet eine Strategie gegen mich entwickeln", er lachte, als fände er die Idee absurd, „unterbrach ich besagte Projekte und sagte ihr sofort, dass sie Unruhe stiften soll, bevor ihr das tun könnt."

Alea klappte der Kiefer herunter. Dann also doch! Der Grund, weswegen Tiara sich so komisch benommen hatte, war tatsächlich Orion gewesen. Aber dass sie ausgerechnet so etwas getan hatte...

„Ich sehe, deine Schwester hat ihre Aufgabe sehr ernst genommen", schmunzelte Orion und musterte Aleas Reaktion mit schiefgelegtem Kopf. „Ich kann mir schon denken, was sie getan hat. Ich habe sie echt unterschätzt."

Alea hätte diesem Mann am liebsten ins Gesicht geschlagen. Das konnte doch nicht sein Ernst sein! Machte es ihm denn so viel Spaß, sie beide gegeneinander aufzuhetzen? Das war doch echt erbärmlich. Leider war Aleas Kehle zu trocken, und ihre Gedanken rasten trotz Betäubung zu schnell, als dass sie es ihm ins Gesicht sagen konnte.

„Na dann, wollen wir unsere Zeit nicht mit dieser Kleinigkeit verschwenden, ich wollte dir doch noch erzählen, was ich mit euch vorhabe."

Alea ballte bei seinen Worten die Hände zu Fäusten. Eine Kleinigkeit nannte er das also? Allerdings wusste sie, dass er sie nur provozieren wollte, damit die Rage sie vom Denken abhielt. Also atmete sie leise durch und versuchte, die Worte des Doktors aus einer objektiven Linse wahrzunehmen. Auch, wenn das ohne den Klargeist-Effekt schwer war.

Einen Moment wartete Orion noch, ob sie denn etwas zu sagen hatte, aber sie hielt ihre Lippen fest verschlossen. Also fuhr er – wenn auch ein wenig enttäuscht – fort:

„Ich hatte dir bereits von dem Projekt erzählt, das ich wegen euch unterbrechen musste. Es war eigentlich schon geplant, dieses Projekt abzuschließen, nachdem ich euch in Hamburg fange, aber dank deiner Mutter und gewissen weiteren Komplikationen musste ich damit warten. Also wollte ich es jetzt fertigstellen. Leider seid ihr nun eine Woche zu früh dran, ich musste das Projekt abbrechen und mir etwas Neues überlegen."

„Nun sagen Sie schon, was dieses Projekt ist", murmelte Alea mit starrem Blick nach vorne, da sie genau wusste, was Orion von ihr hören wollte. Und es nervte sie, dass er das so offensichtlich machte.

„Ich freue mich, dass du das fragst", sagte Orion schon. Natürlich. „Bei meinem Projekt handelte es sich um einen DNA-Wandler. Genauer gesagt, war es ein spezielles Serum, dass die Meermenschen-DNA vollständig aus dem menschlichen Körper ausradiert. Dazu zählen magische Fähigkeiten, die Fähigkeit, Hajara lesen, schreiben und verstehen zu können; und natürlich die Raffnarben."

Vor Schreck riss Alea die Augen auf. Ihre Gedanken, die immer noch einen Fehler in Tiaras Verhalten finden wollten, stoppten abrupt. Die Silberfadenvision kam ihr wieder in den Sinn. Ihre Raffnarben sind verschwunden! Demnach hatte die Vision vorhergesehen, dass Alea zu einem gewöhnlichen Landgänger wird. Letzten Endes konnte Orion dieses Serum wohl nicht fertigstellen, also verschwand die Vision.

„Sie Monster", wisperte Alea. „Haben Sie die Meermenschen nicht schon genug ausradiert? Müssen sie jetzt auch den letzten Rest unserer Herkunft aus unseren Genen treiben?"

Orion lachte leise. „Tja Alea, das gehört nun mal zu meinem Plan. Ursprünglich plante ich, dass Lennox dir daraufhin die Erinnerungen an den Sommer nimmt, damit du vollkommen hilflos bist. Aber leider ist es viel komplizierter, so ein Serum zu erschaffen, als ich anfangs dachte, sei also unbesorgt."

Alea konnte kaum ihre Tränen zurückhalten. War es das, was Orion wollte? Sich an dem Leid ergötzen, das Lennox ihr antun sollte? Sie erinnerte sich daran, wie oft die „Lebewohl"-Vision ihre Beschaffenheit geändert hatten. Ohne Zweifel stellte sie fest, dass diese Vision den Moment beschreiben sollte, an dem Lennox ihr die Erinnerungen nehmen sollte. Wenn dieses schreckliche Schicksal abgewendet war, wie sah es dann in der jetzigen Realität aus? Welche grausame Alternative hatte Orion sich ausgedacht?

Alea Aquarius - Die Magie der SchwesternWo Geschichten leben. Entdecke jetzt