23 - Pflegemutter

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„Ja?" Alea zitterte am ganzen Körper. Sie setzte sich auf ihre Koje, denn sie wusste, dass sie vor lauter Aufregung nicht mehr stehen können würde.

Auf der anderen Seite der Leitung hustete plötzlich jemand. Alea gefror das Blut in den Adern. Es war tatsächlich Marianne!

„Hallo?", fragte Alea.

„Alea?", fragte eine zittrige und raue Stimme.

Sie merkte, wie eine heiße Träne ihre Wange lief. „Ja!", rief sie mit ebenso zittriger Stimme. „Ich bin's, Alea!"
Man konnte die Steine förmlich hören, die ihnen beiden vom Herzen fielen.

„Liebes", stieß Marianne erleichtert hervor. Alea wurde mulmig zumute, als sie die Erschöpfung ihrer Pflegemutter hörte.
„Wie geht es dir?"
„Nein, wie geht es dir!", wollte Alea wissen.
„Nicht so gut", musste Marianne zugeben. Es schnürte Alea die Kehle zu.
„Ich hatte einen zweiten Herzinfarkt", erklärte sie weiter. Alea merkte, wie sie von einem stummen Weinkrampf geschüttelt wurde. Das durfte doch nicht wahr sein! Ein zweiter Herzinfarkt? War das der Grund, weswegen sie nichts voneinander gehört hatten?

„Ich bekam den Infarkt an dem Tag, an dem ich eigentlich in eine neue Klinik eingeliefert werden sollte. Danach haben mir die Pfleger das Handy verboten, aber ich habe schon vorher nichts von dir gehört", erklärte Marianne weiter, als hätte sie Aleas Gedanken gelesen. Oder sie hatte einfach nur laut gedacht.
„Das ist ja schrecklich!", rief Alea und schluchzte. „Es tut mir so leid! Wenn ich das nur gewusst hätte..."
„...wärst du zu mir gekommen?", beendete Marianne ihren Satz. Man hörte ihr das Kopfschütteln an. Sie musste husten, dann sprach sie weiter: „Zum Glück bist du nicht gekommen, Liebes. In den zwei Wochen, in denen ich den Infarkt hatte, haben Leute vom Jugendamt hier auf dich gewartet. Auch sie haben dich mehrmals angerufen, um dein Handy aufspüren zu können, doch auch die konnten dich nicht erreichen."

Alea bemerkte den unausgesprochenen Vorwurf in Mariannes Stimme und wusste, was gleich kommen würde. Und da kam es auch schon: „Kind, wo bist du? Ich habe mir furchtbare Sorgen gemacht! Warum hast du nicht auf meine SMS geantwortet, wir haben doch ausgemacht, dass du dich täglich meldest! Hättest du doch nur vorher oder nachher darauf geantwortet! Ich kann dich schon seit einer halben Woche wieder anrufen, aber du bist nie rangegangen! Ich hatte gehofft, dass du wenigstens auf meine SMS vor dem Infarkt antwortest, doch auch auf die habe ich keine Antwort bekommen."

Ein heftiger Hustenanfall schüttelte ihre Pflegemutter und Alea hielt das Handy ein Stück von ihr weg, damit Marianne nicht ihr unerbittliches Schluchzen hören konnte. Das schlechte Gewissen plagte sie stärker denn je. Es war auch ihre Schuld, dass es Marianne so schlecht ging! Wegen ihr hatte sie sich Sorgen gemacht! Wütend und unfassbar traurig zugleich funkelte sie den Skorpionfisch an, der an der anderen Seite ihres Handys klebte und all diese SMS und Anrufe abgeblockt habe. Er sagte nichts zu seiner Verteidigung, sondern gab nur ein teilnahmsloses Blubb-Geräusch von sich. Aber auch er hatte nur seinen Job gemacht. Vielleicht – oder sogar bestimmt – hatte Orion Mariannes Handy gehakt und zeichnete ihre Anrufe auf und fing die SMS ab.

Als das Husten auf der anderen Seite verstummt war und Alea sich wieder einigermaßen beruhigt hatte, legte sie das Handy wieder an ihr Ohr.
„Es tut mir leid, Marianne", entschuldigte sie sich. „Ich habe aber weder SMS noch Anrufe bekommen, sondern im Gegenteil: Ich habe jeden Tag versucht dich anzurufen, aber du bist nie drangegangen. Vielleicht war eine Leitung kaputt oder so", versuchte sie mit einem schiefen Lächeln eine Erklärung für ihre unwissende Landgängermutter zu finden.
„Geht es dir denn gut, Alea?", wollte nun Marianne endlich wissen.
Alea nickte heftig, obwohl sie das nicht sehen konnte. „Und wie!", meinte sie, ohne ihre Freude zu überziehen und Marianne damit zu kränken. „Du glaubst nicht, wen ich gefunden habe: Meine Mutter Nelani!"
Stille auf der anderen Seite. Ein schlechtes Gewissen überkam sie. Vielleicht war das zu direkt gewesen. Alea hoffte, dass sie sich nicht zu sehr überanstrengte. Innerlich schlug sie sich die Hand gegen den Kopf. Sie würde es sich nicht noch einmal verzeihen, wenn es Marianne wegen ihr wieder schlechter ging.

„Das ist...toll", meinte Marianne. Natürlich meinte sie es ernst, aber sie war leider schon zu schwach, um sich richtig zu freuen.
„Kann ich sie sprechen?", fragte Marianne.
„Klar doch!"
Alea lief aufgeregt in den Salon.

„Schneewittchen, was ist los?", fragte Sammy, der gerade auf dem Couchtisch seine Fusselsammlung sortierte. Alea legte sich ihren Zeigefinger auf die Lippen und ging wortlos nach draußen, holte Nelani und ging mit ihr wieder unter Deck.

„Hallo?", fragte Nelani ins Telefon. Sie hielt es ein wenig ungelenk, um den glitschigen Skorpionfisch nicht zu berühren. Dann schien sie eine Idee zu haben: Sie legte das Handy einfach auf das Handtuch und schaltete den Lautsprecher an. Da hätte Alea auch gleich drauf kommen können.
„Sie sind also Nelani, Aleas Mutter?", fragte Marianne forsch.
„Ja", bestätigte sie. „Um es von Anfang an zu klären: Ich und mein Mann sind geschieden. Er lebt in Island, ich in Norwegen."
Alea horchte auf. Anscheinend hatte sie schon eine landgängerfreundliche Version ihrer Geschichte ausgetüftelt.
„Vor einiger Zeit – um genauer zu sein vor elf Jahren - bin ich schwer erkrankt. Ich habe mir damals vorgenommen, Alea und ihre Schwester Anthea allein aufzuziehen. Die Krankheit kam mir aber dazwischen. In meiner Verzweiflung habe ich Alea an Sie gegeben, einer herzensguten Frau, die ich am Strand gesehen habe. Ich wusste sofort, dass Sie sich gut um mein Mädchen kümmern würden. Anthea habe ich einem jungen asiatischen Pärchen gegeben. Ich dachte eigentlich, an meiner Krankheit sterben zu müssen und habe Keblarr daraufhin angerufen, um ihn zu informieren. Er ist völlig zusammengebrochen und wollte zu mir kommen, allerdings hatte er kein Geld dazu. Wie durch ein Wunder bin ich aber wieder gesund geworden. Zu diesem Zeitpunkt war aber mein Exmann verschwunden, ich habe ihn nie wieder gefunden. Auch meine beiden Töchter waren wie vom Erdboden verschluckt, egal wie stark ich mich in den letzten elf Jahren bemüht habe, sie zu finden. Doch wie aus heiterem Himmel habe ich eine Nachricht von Alea erhalten und konnte mein Glück gar nicht fassen. Jetzt bin ich auch auf der Crucis, gerade segeln wir über der Ostküste Frankreichs."
Damit schloss Nelani ihre etwas abgewandelte Geschichte. Marianne hatte alles ruhig mitangehört.
„Das ist schön, dass ihr euch doch noch gefunden habt", meinte sie, ohne auf Aleas plötzlichen Positionswechsel von Island nach Frankreich einzugehen.
„Wird Alea bei Ihnen bleiben?", hakte sie nach. In ihrem Ton schwangen die Vorwürfe an Alea mit, dass sie eigentlich schon längst wieder in der Schule sein müsste.
Ich werde auf jeden Fall bei ihr bleiben", beteuerte Nelani. „Aber ob das in Hamburg oder irgendwo anders sein wird, steht noch offen. Alea spricht ja nur Deutsch und ein wenig Englisch, und die Sprache meines Landes zu erlernen, würde sicher lange dauern. Aber ich bin durchaus dazu bereit, für sie in Deutschland zu bleiben."
Ob sie auch wirklich dorthin zurückkehren konnten, stand allerdings in den Sternen. Doch das wusste Marianne zum Glück nicht.
„Dann ist es ja gut", fasste Marianne zusammen. „Ich bin froh, dass es Alea gut geht und Sie sich um sie kümmern werden."
Da Alea wusste, dass ihr Gespräch gleich enden würde, fragte sie noch schnell: „Hast du eigentlich in letzter Zeit Besuch bekommen?"
Nelani warf ihr einen fragenden Blick zu. Doch im nächsten Moment wusste sie, worauf Alea hinauswollte: War Orion bei Marianne gewesen?
„Carsten und seine Frau waren ein paar Mal bei mir", meinte Aleas Pflegemutter leicht verwirrt. Karsten war ihr vierzigjähriger Sohn, dem Alea schon immer ein Dorn im Auge gewesen war.
„Wieso fragst du?"
„Ach nichts, ich wollte nur wissen, ob du die ganze Zeit allein bist. Aber zum Glück ist dem ja nicht so." Alea fiel ein halbes Gebirgsmassiv vom Herzen. Hatte Orion Marianne nicht manipuliert und sagte sie die Wahrheit, war Marianne in Sicherheit. Vorerst zumindest.
„Alea, Schatz, ich muss jetzt auflegen, ja?", meinte Marianne erschöpft. Im Hintergrund war eine Frauenstimme zu hören. „Die Pfleger wollen nicht, dass ich zu lange telefoniere. Hab dich lieb."
„Ich dich auch", erwiderte Alea mit trockener Kehle, als die Schuldgefühle sie wieder übermannten. Das Freizeichen erklang. Marianne hatte aufgelegt. Alea sank schluchzend in die Arme ihrer Mutter.

Alea Aquarius - Die Magie der SchwesternWhere stories live. Discover now