53 - Meermädchen

186 13 10
                                    


Das Meerwasser war eisig kalt, doch ihr Flex glich die kühlen Temperaturen sofort mit einem warmen Strom durch seine Fasern aus. Tiara hingegen zitterte wie Espenlaub. Ob es wegen der Kälte dieses kühlen Septembernachmittags war oder aus Angst vor dem, was bald geschehen würde. Jetzt schon starrte ihre Schwester panisch auf ihre Hände.

„Es kribbelt!"

Alea legte ihr beruhigend die Hände auf die Schultern. „Das ist normal. Die erste Verwandlung nach langer Zeit dauert immer etwas länger und das Kribbeln ist das erste Symptom deiner Verwandlung."

Sie erinnerte sich, wie sie bei dem Kribbeln anfangs gedacht hatte, an einem allergischen Schock sterben zu müssen, doch das erwähnte sie besser nicht.
Tiara wurde bei ihren beruhigenden Worten bewusst, wie ängstlich sie sich verhielt und versuchte, ihr Pokerface wieder aufzurichten. Es half nicht sehr viel.

„Es wäre besser, wenn wir abtauchen, dann können wir uns vollständig verwandeln", meinte Alea. „Aber bitte erschrick dich nicht."

Sanft drückte Alea ihre Schwester unter das Wasser und entfernte sich gleichzeitig mit einigen leichten Fußkicks von der Crucis, damit ihnen das Schiff nicht in die Quere kam. Tiara sträubte sich anfangs gegen das steigende Meerwasser, ließ es dann aber geschehen. Sie holte tief Luft, obwohl sie es eigentlich nicht nötig hatte.

Alea zog sie einige Meter unter Wasser, sodass die See sie nicht mehr beeinflusste. An dem Kribbeln an ihrem Körper wusste sie, dass sie sich bereits verwandelte. Es tat gut, wieder das Wasser durch die Kiemen strömen zu lassen und Schwimmhäute an Händen und Füßen zu spüren. Erst jetzt fiel ihr auf, wie lange das letzte Mal zurücklag, an dem sie geschwommen war. Ohne Stress, ohne Druck, ohne Orion auf den Fersen.

Anthea begann nun auch, sich zu verwandeln. Langsam zeigte sich ein Schimmer silbrig-grüner Haut auf ihren Händen und ihre Pupillen verengten sich zu katzenhaften Schlitzen. Kurz darauf ging ein Ruck durch ihre Schwester, als sich ihre Sicht klärte und sie ihre Haut erkannte. Sie blickte entsetzt zu Alea, deren Anblick sie nicht im Geringsten zu beruhigen schien.

„Alles gut, das ist normal", redete ihr diese gut zu. „Du wirst bestimmt schon Kiemen bekommen haben. Bald sollten sich auch die Schwimmhäute bilden." Sie deutete auf die Hand ihres Zwillings. Anthea blickte ebenfalls darauf. Ihre Augen weiteten sich, als sie sah, wie die Schwimmhäute wie schleimige Schlingpflanzen aus den Fingerknubbeln wuchsen und sich von unten nach oben miteinander verbanden, bis sie die dünne, sehnige Haut bildeten.
Mit einer Mischung aus Entsetzen und Faszination beobachtete sie diesen Vorgang. Langsam wurde sie ruhiger und betrachtete den Rest ihrer Verwandlung.

Jetzt erst nahm sich Alea die Zeit, Antheas Stimmungsspiel zu betrachten. Die grellen gelben Blitze und orangefarbenen Strudel der Angst verblassten allmählich und wurden immer stärker durch kakifarbene Tischtennisbälle ersetzt, die aus Neugierde durch die Gegend schossen. Die pinken und violetten Strudel, die sich turbulent um ihren Kopf zogen, zeugten von ihrer Faszination.

„Du wolltest mir doch noch die Kräfte einer Walwanderin beibringen", meinte sie da. Sie sprach sehr langsam, so als müsse sie sich noch an ihre gedämpfte Unterwasserstimme gewöhnen. „Dann wollen wir mal!" Sie versuchte, in die Hände zu klatschen, was ihr unter Wasser aber nicht allzu gut gelang.

„Also..." Alea überlegte, welche Fähigkeit wohl am besten geeignet wäre.
„Walwanderer können Stimmungsspiele sehen", begann sie.
„Stimmungs- was?" Verwirrt zog Anthea die Augenbrauen zusammen.
„Eigentlich solltest du sie schon sehen. Es sind die Farben des Wassers, die Geschichten erzählen und dir die Gefühle deines Gegenübers zeigen. Sie sind das Gedächtnis des Wassers."
„Hmm", machte ihre Schwester, was sich im Wasser irgendwie witzig anhörte.
„Ich sehe... Wasser. Nichts Besonderes, keine Farben."

„Dann kommt das bestimmt noch", beruhigte Alea sie. „Bei mir hat es auch erst angefangen, als ich das Wasser wieder verlassen habe. Ich dachte anfangs, ich wäre verrückt geworden."
Daraufhin mussten sie beide kichern. „Sag Bescheid, wenn du anfängst, Farben und Formen zu erkennen."

Anthea nickte. „Was gibt's denn sonst noch?"

Alea überlegte kurz. „Was vielleicht wichtig wäre, ist das Zavana Ravanda. Das sind rotorangene Tropfen, die bei Gefahr oder auch auf Kommando aus deinen Fingerspitzen kommen. Wenn du Zavana Ravanda schickst, rufst du alle Magischen in der Nähe herbei. Das kann nützlich sein, wenn wir Hilfe gegen Orion brauchen. Aber man sollte es mit Bedacht benutzen."

Ihre Schwester sog alle Informationen begierig in sich auf. Alea erzählte ihr noch, was sie tun musste, sollte sie Walgesang hören und erklärte ihr noch grob einige Magische.

„Können wir jetzt endlich schwimmen?", fragte Anthea ungeduldig. Alea nickte. Sie trieben im Moment nur einige Meter unter dem Wasser, wo die Wellen sie nicht so sehr beeinflussten. Ihre Schwester brannte förmlich darauf, endlich ihre neuen Fähigkeiten ausprobieren zu dürfen. Die Crucis musste schon ein paar Kilometer vor ihnen sein, also wäre es besser, wenn sie sie einholen würden.

„Als Meermensch bist du sehr viel schneller unter Wasser als jeder Mensch", informierte sie ihre Schwester und schwamm sanft um sie herum, um ihre Hand zu nehmen. Überraschenderweise schüttelte Anthea sie nicht ab. Es war eigenartig, wie das Wasser sie so veränderte, ihr gar keinen Raum für Sticheleien und Säuerlichkeit ließ.

Anthea ließ sich mitziehen, als Alea nach vorne schwamm. Sie fing langsam an und wurde immer schneller. Aus eigener Erfahrung wusste sie, dass ihr Zwilling damit kein Problem haben würde, da ihnen das Schwimmen angeboren war und man es auch nach so langer Zeit nicht wiedererlernen musste. Irgendwann schossen sie nur so durch das Wasser und hinterließen eine Spur goldgelber Bläschen. Nach einer Weile beschleunigte Anthea noch mehr und ließ ihre Hand los, während sie einen erfreuten Ruf ausstieß.

„Das macht voll Spaß!", rief sie und überholte Alea, die natürlich sofort aufholen musste. Anthea machte einen Unterwassersalto und drehte sich um die eigene Achse, während sie so das Wasser durchschnitt.

„Lass mich nicht zurück!", rief Alea glucksend und machte ebenfalls einige Kunststücke im Wasser, die ihre Schwester augenblicklich nachmachte. Sie spielten eine Weile lang, bis Anthea irgendwann abrupt anhielt. Alea zischte an ihr vorbei, stoppte ebenfalls und schwamm mit einem Fußkick zurück.

„Was ist los?"

„Ich kann Farben sehen!" Anthea konnte ihr Glück gar nicht fassen. Sie hielt sich abwechselnd die Schläfen und rieb sich mit einem riesigen Lächeln auf dem Gesicht die Augen.

„Da sind blaue Linien, bunte Blasen und rosa Schlieren!" Sie schaute sich gebannt um und musterte Alea, die ihr Lächeln nicht unterdrücken konnte.

„Da sind goldgelbe Bläschen um dich herum", stellte ihre Schwester fest. „Und rosa Bläschen" Konzentriert zog sie die Brauen zusammen und fokussierte das Stimmungsspiel. „Das bedeutet... Zuneigung"

Auf einmal realisierte sie, wie sie sich benahm. Anthea räusperte sich einmal und straffte den Rücken, als sie sich dabei erwischte. Alea war es nicht gewöhnt, sie so ausgelassen zu sehen, aber sie war sich sicher, dass dieser Teil ihrer Schwester echt war. Nicht die ausdruckslose Miene, die sie nun versuchte, aufzusetzen. Fast erwartete Alea, dass sie etwas wie „Erzähl das niemanden oder ich töte dich" sagen würde, doch dann zuckte Anthea zusammen. Die kürzlich aufgebaute Sicherheit verschwand und wich einem ängstlichen Blick. Ihre Schwester schrumpfte förmlich in sich zusammen und sie schwamm schnell zu Alea hinüber, die sich verdattert umschaute. Anthea deutete nach Südosten, wo sich ein Knäul an Schlieren in den verschiedensten Blau- und Violetttönen befand. Beim genaueren Hinsehen erkannte Alea einen riesigen Schatten dahinter. Nun lief auch ihr ein kalter Schauer über den Rücken. Was war das nur für ein Ding? Es schien näherzukommen.

„Wir sollten gehen", flüsterte Anthea ihr ins Ohr. Ihre Stimme klang sicher, doch das Zittern ihrer Hand auf Aleas Schulter zeigte das Gegenteil. Plötzlich fühlten sie, wie ein Beben durchs Wasser ging, als das Ding immer näherkam. Anthea begann, an ihrer Schulter zu ziehen. Es hätte nicht viel gefehlt, bis sie sich allein davongemacht hätte, doch da erkannte sie das Wesen, noch bevor Alea es tat. Sofort senkte sie ihren Blick. Nun wurde auch Alea bewusst, worum es sich hierbei handelte: Es war ein riesiger Tasfar.

Alea Aquarius - Die Magie der SchwesternWhere stories live. Discover now