67 - Die Forderung

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Alea und Haruko unterhielten sich noch einige Zeit über die Ereignisse auf dem Meer, Alea erzählte von Shiros Tod, Jisus Ausbildung zur neuen Königin und natürlich auch von Orion. Dabei mied sie das Thema Cassaras, so gut es ging. Irgendwann musste sie Haruko aber beichten, dass sie den Silberumhang bereits aufgegeben hatte, und sie fürchtete sich unheimlich vor ihrer Reaktion.

Gegen Nachmittag kam auch Giovanni von der Arbeit, der – nach Harukos Erzählungen – das Fischererbe seines Vaters aufgegeben hatte und nun als Touristenführer in Venedig tätig war. Er war etwas breiter gebaut als Luigi, mit Vollbart, buschigen dunklen Augenbrauen und müden, haselnussbraunen Augen. Auch er war sehr glücklich über Aleas Ankunft und begrüßte sie herzlich. Nachdem sich diese weiter erholt hatte, aßen sie gemeinsam zu Mittag. Aus der Meerwelt hatte die Nixenkönigin unzählige Gerichte mitgebracht. Luigi und Alea bereiteten mithilfe eines in Leder gebundenen Kochbuchs eine alte Nixenspeise her, die aus verschiedenen Algensorten bestand. Statt einigen bereits ausgestorbenen Meeresfrüchten (buchstäblich) gab es Möhren und Mais dazu. Zusammen wurde das ganze aufgerollt, mit einigen Gewürzen und Soßen verfeinert und serviert. Beim Essen tauschte sich Alea mit den beiden Italienern weiter aus, während Haruko der kranken Ayumi ihr Essen ans Bett brachte.

Doch je später es wurde, desto besorgter war Alea um den Rest der Alpha Cru. Sie mussten sich schreckliche Sorgen machen! Oder hatten die Männer sie womöglich geschnappt?

„Kann ich nachher noch meine Freunde suchen?", wollte sie nach dem Essen wissen.

Aber Haruko lachte nur, während sie sich die Teller auf den Schoß stapelte und in die Küche rollte. „Deine Freunde werden von selbst hierher finden, Kindchen. Ich habe deine Ankunft in einer Vision gesehen, und ich sah auch ihre Ankunft."

Alea fragte sich, was sie wohl noch so gesehen hatte. Wieder einmal dachte sie an Cassaras. Schließlich konnte sie es der Nixenkönigin nicht mehr verheimlichen.

„Haruko, ich muss dir etwas sagen...", begann sie. Jedoch hatte sie nicht die Möglichkeit, weiterzusprechen. Im nächsten Moment wurde die Tür eingerissen.

Vor Schreck rutschten Haruko die Teller von den Beinen und zerbrachen mit einem ebenso grässlichen Bersten am Holzboden. Holzsplitter und Porzellanscherben verteilten sich im Flur, die alte Holztür hing schief in den Angeln. Hastig rollte Haruko in die Küche hinein, um aus der Schusslinie zu gelangen.

Um ihren Kopf zu schützen, hatte Alea instinktiv die Arme über ihr Gesicht gehalten. Ob das Lennox war?

Lennox würde viel eher durchs Fenster klettern, anstatt Aufmerksamkeit mit so einer Aktion zu erregen, antwortete ihr da der Elvarion-Modus, der augenblicklich hochgefahren war.

Als sie die Gestalt im Türrahmen erkannte, wären ihr bestimmt auch die Teller aus der Hand geglitten, hätte sie sie nicht vor einer Sekunde noch auf der Küchentheke abgestellt.

Es war Cassaras.

Der Nixenprinz durchschritt mit zwei schnellen Schritten den schmalen Flur und trat in die Küche. Als erstes fixierten seine eisblauen Augen Alea. Diese versuchte, seinen Gesichtsausdruck zu deuten. Er schien weder wütend, noch besorgt zu sein, viel eher angriffsbereit. Alea sah, wie sich seine linke Hand fest um die Machete an seinem Gürtel schloss, bereit, jeden Angreifer augenblicklich auszuschalten. Bereit wie ein Hai, der seine Beute in Sekunden zerfetzen würde.

So fixiert, wie er Alea anstarrte, sich wohl vergewisserte, dass sie wohlauf war, hatte er seine Mutter gar nicht bemerkt. Doch dann wandte er den Kopf zu der kleinen Gestalt, die leicht verborgen an der Wand in ihrem Rollstuhl saß. Sie hatte ihre Augen weit aufgerissen, so als wäre der Mann vor ihr der Teufel und nicht ihr Sohn.

Cassaras' zusammengekniffene Miene wich Verwirrung, dann blankem Entsetzen.

„Mutter?", entwich es ihm voller Abscheu.

„Cassaras", entgegnete Haruko mit derselben Menge an Abneigung in ihrer Stimme.

„Der Umhang!" Cassaras schien die Punkte in diesem Puzzle verbunden zu haben und zur Schlussfolgerung gekommen sein, dass der Umhang der einzige Grund gewesen sein musste, dass Alea zu seiner verschollenen Mutter gefunden hatte.
Der Nixenprinz drehte sich geschwind um und schnellte in die andere Hälfte der Wohnung, als könne er die Anwesenheit des Silberumhangs spüren.

„Cassaras!", rief Haruko entsetzt, und gegen ihren Willen sprintete Alea los. Sofort bestrafte ihr Körper sie mit einem stechenden Schmerz am Kopf, doch zum Glück war der Weg nicht lang. Dabei wäre sie beinahe gegen Cassaras' Leierkasten geknallt, als der Nixenprinz abrupt stoppte. Ob der Grund dafür Luigi war, der beim Anblick des Prinzen seine Tasse Tee fallen ließ, oder der Silberumhang, den er auf dem kleinen Tischchen sah.

Luigi ging – ungeachtet der Scherben vor seinen Füßen – zum Silberumhang und baute sich mit ausgebreiteten Armen davor auf.

„Geh aus dem Weg, Landgänger", fauchte Cassaras ihn an.

„Das werde ich nicht tun!", rief Luigi bestimmt. „Der Umhang gehört dir nicht!"

Das machte Cassaras nur noch wütender. Er festigte den Griff um seine Machete, bereit, sie herauszuziehen und dem Italiener die Kehle aufzuschlitzen. Alea wollte ihn am Arm ziehen, ihn anschreien, das zu lassen, doch ihr innerer Selbstschutz-Modus ließ das nicht zu. Sie konnte nur zurückweichen, aus der Ziellinie. Alea wusste, dass sie nun, wo Cassaras den Silberumhang in greifbarer Reichweite hatte, nicht mehr unter seinem Schutz stand. Im Gegenteil: Sie war vielmehr eine Last für ihn, die ihn nur behindern würde. Es würde einfacher für ihn sein, sie einfach aus dem Weg zu schaffen. Und Alea war sich nicht sicher, ob die Bindung, die sie nach Shiros Tod und Jisus Rettung aufgebaut hatten, ihn davon abhalten würden.

Cassaras zog nun das lange Messer aus seiner Scheide am Gürtel, und Haruko hinter ihm schrie entsetzt auf. Der Nixenprinz hielt mitten in der Bewegung inne, die Machete über seinem Kopf erhoben. Sein Blick war starr und blickte Luigi wutverzerrt an, der mittlerweile etwas in sich zusammengesunken war. Langsam ließ Cassaras die Machete sinken und steckte sie zurück, er stöhnte genervt.

„Wer zur Hölle ist dieser Landgänger?", fragte er seine Mutter. Es war gruselig, wie sowohl Mutter als auch Sohn durch ihre Aufenthalte an Land diese Landgängerfloskeln übernommen hatten.

„Ein Freund", erwiderte Haruko schnippisch und rollte in den Raum hinein, an ihrem Sohn vorbei. „Ich dulde nicht, dass du irgendwem hier – weder Alea, mir, meinen Landgängerfreunden oder ihrem Haus – jeglichen Schaden zufügst. Meine Entscheidung steht fest: Der Umhang gehört der Elvarion, nicht dir."

Entgegen ihrer Erwartung fing Cassaras plötzlich an, leise zu lachen.

„Ach Mutter, weißt du es etwa nicht? Die Elvarion hat den Umhang längst verloren."

Haruko riss entsetzt die Augen auf und starrte Alea an. Diese wich dem Blick der Nixe aus. Jetzt war es raus, und wieder mal auf dem wohl unangenehmsten Weg, der irgend möglich war.

„Alea, bitte sag mir, dass das nicht wahr ist."

Doch Alea konnte sie nur entschuldigend anschauen.
Die Nixenkönigin seufzte verzweifelt.

„Kind, was hast du bloß getan"

„Und was, wenn ich ihn jetzt trotzdem behalten will?", fragte Alea provokant. Und das, obwohl sie damit gegen ihre eigenen Prinzipien verstoß. Cassaras hatte sie beschützt, und ihr Versprechen jetzt zu brechen, wäre Verrat. Sie wollte auf keinen Fall auf das Niveau und die Hinterlistigkeit Orions herabsinken. Trotzdem rannte sie los, an Cassaras und Luigi vorbei, und wollte den Silberumhang packen. Doch Centimeter, bevor sie den Stoff berührte, durchfuhr ein stechender Schmerz ihren Kopf, der ihren Schädel förmlich zerbersten ließ. Sie sank in die Knie und hielt sich im blanken Entsetzen den Kopf; ihre Sicht verschwamm und wurde fleckig unter den Schmerzen.
Was war das nur?

Alea Aquarius - Die Magie der SchwesternWhere stories live. Discover now