68 - Der Pakt

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Aus dem Augenwinkel sah Alea, wie Cassaras langsam zu ihr kam und den Silberumhang nahm. Entsetzt blickte sie hoch, und er schaute sie nur abschätzig und mit einem genüsslichen Lächeln an. Als seine blassen Finger den silbernen Stoff berührten, schloss er wohltuend die Augen. Es musste die grenzenlose Macht des Umhangs sein, die durch ihn hindurchfloss. Dieselbe Macht, die Alea diese Schmerzen bescherte. Als diese ein wenig abgeklungen waren, richtete sie sich schnell wieder auf und starrte Cassaras verwirrt und wütend zugleich an.

„Was war das?", verlangte sie zu wissen. „Warum kann ich den Umhang nicht berühren, er gehört doch mir!"

„Falsch", entgegnete Cassaras, der seine Lider wieder aufgeschlagen hatte und sie belustigt musterte. „Erinnerst du dich nicht an unseren Pakt? Du hast mir versprochen, mir den Umhang zu übergeben, nachdem er in deinen Besitz gelangt. Nun ist dies geschehen, und er gehört mir."

Alea verstand nicht, was er meinte. Was hatte das mit ihren Schmerzen zu tun? Sie warf – trotz des stechenden Schmerzes – einen hilfesuchenden Blick zu Haruko, in der Hoffnung, sie wüsste mehr. Deren entsetzter Blick verriet ihr sofort, dass das der Fall war.

„Sag bloß, du hast einen Pakt des Meeres mit ihm geschlossen?", entfuhr es ihr. „Kind, was hast du bloß getan?"

„Ein Pakt des Meeres?", wiederholte Alea schwammig. Ihr Kopf fühlte sich noch so an, als würde alles darin fließen; die Schmerzen hatten den Elvarion-Modus problemlos zerschlagen. „Was soll das sein?"

„Ein Pakt des Meeres ist ein Zauber, der beide Partner unwiderruflich an die Bedingungen bindet", erklärte Cassaras genüsslich. „Ich hatte ihn vorbereitet, bevor ich euch in der Villa Konungur abfing – im Falle, dass ihr mich austricksen und mir den Umhang doch nicht geben wolltet. Ich habe unauffällig die Formel gesprochen, ohne dass ihr etwas gemerkt habt."

Alea schwirrte der Kopf. Ob es von den Schmerzen oder Cassaras' Worten war, wusste sie nicht. Der Nixenprinz war wirklich der König der Tricksereien! Unglaublich, dass sie das nicht bemerkt hatte. Aber sie hatte sich schon etwas in der Richtung gedacht. Cassaras war viel zu vorsichtig, als dass er sich auf das Wort eines Kindes verließ. Er wusste ja, dass sie eine Elvarion war und sich nicht immer von roher Gewalt beeindrucken ließ. Vor allem Lennox tat das nicht, und da er Aleas Entscheidung schon immer bemängelt hatte, hätte Cassaras wohl nicht riskieren wollen, dass es auf einen Kampf zwischen ihnen auslief. Eine friedliche Übergabe ohne Verhandlung schien viel praktischer.

„Alea, du hast keine Chance, der Umhang gehört mir!" Cassaras riss sie an den Haaren auf die Beine und drehte ihren Kopf so, dass sie ihn anblickte. Ungeachtet Aleas Schmerzensschreie, als der Umhang ihr dadurch näherkam und ein unangenehmes Kribbeln in ihr auslöste.
Cassaras lächelte sie ein letztes Mal an. Aus seinem Blick starrte der blanke Hass, der Hass auf das letzte Jahrzehnt, in dem er wie ein Schoßhund auf sie aufpassen und ihr auf Tritt und Schritt folgen musste, um endlich ans Ziel zu kommen. Der Hass auf jedes Mal, dass er sie hatte retten müssen, das Mädchen, welches ihn durch seinen bloßen Anblick an das Schicksal erinnerte, mit dem ihn seine Mutter verhöhnt hatte.

Cassaras ließ Aleas Haare los, sodass sie nach hinten taumelte und auf das Sofa fiel. Der Nixenprinz nahm nun den Silberumhang mit langsamen Bewegungen, schüttelte ihn aus. Extra langsam, damit Haruko und Alea den Moment besonders lange ertragen mussten.

„Das wagst du nicht!", drohte ihm Haruko, obwohl ihre Stimme brüchig und fast verzweifelt klang und sie in ihrem Rollstuhl zusammengesunken war.

„Ach Mutter", verspottete Cassaras sie. „Was willst du denn jetzt tun? Sieh dich doch einmal an: Du bist eine alte Frau, ja fast eine Landgängerin. Du bist schwächlich geworden. Es gibt nichts, was mich davon abhalten kann, mit dem Umhang der neue König zu werden!"

Alea traten bei diesen Worten fast die Tränen in die Augen. Was war mit Jisu? Hatte er sie nicht auf den Thron lassen wollen, hatte er nicht zu ihr gesagt, dass er sich das mit der Herrschaft noch einmal überlegen wollte? Er hatte doch Jisu ausbilden wollen, mit ihr eine neue Reihe an Nixenköniginnen begründen wollen! War das alles nur gespielt gewesen? War er nur geschwächt gewesen, bis jetzt endlich seine wahren Beweggründe wieder zutage kamen?
Auch Haruko schien zutiefst erschüttert von seinen Worten zu sein. Wohl aus Frust, Trauer und Enttäuschung rollte sie weiter ins Zimmer hinein, aber von ihrem Sohn weg.

Cassaras zog sich nun – zu Aleas Verwunderung – den Silberumhang direkt über seinen schwarzen Mantel. Dabei dehnte und verformte sich das magische Artefakt, bis es den Mantel wie eine zweite Haut überspannte. Er verwandelte sich von einer Strickjacke zu einem edel aussehenden Gewand, das silbern benetzt war. Entfernt erinnerte sich Alea an die Silberfadenvision ihrer Mutter: Dort war Cassaras zu sehen gewesen, aber sein Mantel schien silbern zu sein. Es schien geschehen zu sein, als Cassaras den Silberumhang bereits besaß! Ein weiteres Mal machten die Visionen plötzlich Sinn, leider zum unpassendsten Zeitpunkt.

Zufrieden blickte der Nixenprinz an sich herab. Er warf einen triumphierenden Blick zu Haruko, Alea und dem eingeschüchterten Luigi, der sich etwas zurückgezogen hatte; während er langsam in einem Bogen das Zimmer durchschritt und sich zum Glück immer weiter von Alea entfernte.

„Da schaust du, was Mutter?" Er schickte ein böses Lächeln in ihre Richtung.

„Oh ja...", entgegnete diese nur, während sie mit ihrer Hand vorsichtig die Kommode abtastete, die neben ihr an der Wand stand. Cassaras folgte ihren Bewegungen misstrauisch.

„Was hast du vor?"

Doch Haruko antwortete gar nicht erst. Sie riss plötzlich die oberste Schublade auf und holte etwas heraus, das sie innerhalb eines Herzschlags mit einer ungeheuren Wucht vor Cassaras Füße warf. Das, was etwas wie eine kleine Glasflasche ausgesehen hatte, zerbarst mit einem grässlichen Klirren auf den Holzdielen und die helle Flüssigkeit im Inneren evaporierte augenblicklich zu einem milchigen Rauch, der den Nixenprinzen einhüllte.

„Das wagst du nicht!", brüllte Cassaras sie an, doch es war schon zu spät. Er hatte den Nebel eingeatmet und begann zu husten. Er versuchte, sich mit dem Ärmel abzuschirmen, doch er hustete immer weiter. Alea rückte alarmiert aus der Schusslinie, Haruko schien nur darauf gewartet zu haben, dass sich ihr Sohn von ihr entfernte. Trotz ihrer stechenden Schmerzen flüchtete Alea auf die andere Seite des Raumes zu Luigi, der sie stützte, bevor sie zusammenbrach. Das hielt sie aber nicht davon ab, das Geschehene weiter zu beobachten.

Cassaras war derweil in die Knie gesunken, der seltsame Nebel umhüllte ihn noch immer und hatte sich regelrecht an ihm festgebissen.

„Mutter...nein...ich verbiete es dir", röchelte er.
Doch Haruko schien davon nicht im Geringsten beeindruckt zu sein.

„Höre mich an, oh Meer mit deiner Magie", rief sie aus. „Gib mir die Macht für einen Zauber, der die Bedrohung für die Nixen mindern wird."

Auf einmal leuchteten Teile des Nebels auf, einzelne Partikel glitzerten in ihm. Cassaras wand sich keuchend und seine Klagerufe waren erstickt.

„Hiermit verbanne ich dich, Prinz Cassaras, Sohn der Haruko, der Tochter der Sakura; Halbnixe mit deinen Wurzeln an Land, aus dem Nixenreich für alle Zeiten! Ich verbiete es dir, auch nur eine Nixenstadt je wieder zu betreten und dich auch nur einer unserer Art ohne grässliche Schmerzen nähern zu können. Ich verdamme dich zur ewigen Einsamkeit, allein an Land oder im Meer. Bei der Macht der Ozeane, der Macht, die mir meine Vorfahren gegeben haben, besiegele ich diesen Bann, auf dass er niemals gebrochen werden kann!"

Mit diesen Worten leuchtete auch der Rest des Nebels auf, und er sog sich nun in Cassaras hinein. Drang in seinen Mund, Nase, Ohren; setzte sich auf seiner Haut fest und sickerte ein, bis auch der letzte Rest in ihm vereint war. Nur Sekunden, nachdem Haruko diesen Bann gesprochen hatte, erlangte Cassaras seine Kräfte wieder. Ohne ein weiteres Wort stürmte er aus dem Haus, und war binnen eines Wimpernschlags verschwunden.

„Das hätte ich schon lange tun sollen", murmelte Haruko verbittert. Aber Alea sah auch Schmerz in ihren Augen. Jetzt hatte sie ihren Sohn endgültig ausgestoßen. Was anfangs nur eine Auseinandersetzung gewesen war, die in einem schlimmen Streit und jahrelanger, aber freiwilliger Isolation von Cassaras resultiert hatte, war zu einem unwiderruflichen Fluch geworden, der Cassaras auf ewig aus der Gemeinschaft des Meeres ausschließen würde.

Alea Aquarius - Die Magie der SchwesternWo Geschichten leben. Entdecke jetzt