Jan
"Andre, was ist los?" Ich lasse ihn los, doch er drückt mich nur noch fester an sich. Sein Kopf liegt auf meiner Schulter und ich spüre seine großen Hände auf meinem Rücken. Obwohl es sich so schön anfühlt, bin ich unruhig, da ich unbedingt wissen will, was ihn so dermaßen aus der Fassung bringt.
"Andre?" Er reißt sich von mir los, steht auf und verlässt mit eiligen Schritten mein Zimmer. Im ersten Moment denke ich, dass er schon wieder wütend auf mich ist, aber ich höre ihn meinen Namen rufen. Also folge ich ihm in sein Zimmer, wo er neben seinem Bett in einem Berg aus Klamotten herumwühlt und etwas zu suchen scheint. Da er eine Ewigkeit braucht, lasse ich den Blick umherschweifen und mir fällt eine Packung Kondome auf, die halb unter seinem Bett hervorguckt. Als er merkt, wie ich darauf starre, schiebt er sie mit rotem Kopf mit einem Fuß wieder ganz unter das Bett und drückt mir gleich darauf einen ziemlich zerknüllten weißen Umschlag in die Hand. "Für Andre" steht drauf. Keine Adresse, kein Absender. Ich sehe ihn fragend an.
"Lies", murmelt er. Ich ziehe das Papier aus dem Umschlag und falte es auseinander. Die Handschrift ist klein, sehr krakelig und mir vollkommen unbekannt. Ich kann sie nur mit Mühe lesen. An manchen Stellen ist das Papier voller Flecken, welche die Schrift verschwimmen lassen. Ob von Andre oder dem Absender weiß ich nicht. Eine große Ecke am linken unteren Rand fehlt. Ich beginne zu lesen.
Lieber Andre,
ich weiß nicht, wie ich diesen Brief an dich überhaupt anfangen soll. Ich weiß nicht, ob du ihn überhaupt lesen wirst, wenn du erfährst, wer ich bin. Ich weiß auch nicht, ob der Brief bei dir ankommen wird.
Es ist lange her, dass ich dich gesehen habe. Mehr als zehn Jahre, denke ich. Seither ist viel passiert. Ich habe erst vor kurzem erfahren, dass du jetzt "berühmt" bist, wenn man das so sagen kann. Ich kenne mich nicht so gut aus mit dem Internet und dem Socialmedia. Eine Freundin von mir hat mir ein Video von dir und deinen Freunden gezeigt. Und was soll ich sagen? Ich denke, dass ich kein Recht dazu habe und dass meine Meinung dich nicht kümmert, aber ich bin stolz auf dich, Andre. In gewisser Weise bin ich das wirklich, so seltsam es klingt.
Vielleicht willst du wissen, wie es mir ergangen ist, seitdem du fort warst. Nein, sicherlich willst du es nicht. Trotzdem, nur ganz kurz dazu. Es kam wie es kommen musste: Eines Morgens bin ich unter einer Brücke aufgewacht und wusste, was passiert war, noch wo ich war. Ich hatte furchtbare Schmerzen, viel schlimmer als sonst. Eine alte Frau hat die Polizei gerufen und sie haben mich in eine Klinik gebracht. Dort habe ich mich durch das volle Programm gekämpft. Anschließend eine Entwöhnung. Ich habe fast zwei Jahre gebraucht. Dann der Start eines neunen Lebens. Das kannst du dir wahrscheinlich nicht vorstellen, aber es stimmt. Doch schon damals wurde mir gesagt, dass meine Leber schlimme Schäden durch all die Jahre und den Alkohol davon getragen hat. Natürlich ist es so. Und nun liege ich hier und weiß, dass es nicht mehr lange gehen wird. Noch zwei, maximal drei Wochen, sagen sie. Ich könnte weiterleben. Eine Spenderniere. Darum hat man mich nach Köln Mehrheim verlegt. Sie sagen, die Niere liegt bereit. Sie passt zu meinem Körper. Aber ich glaube, ich bin es nicht wert, einem anderen Menschen, der die Niere viel dringender braucht als ich, sie wegzunehmen. Nein, nicht ich. Nach allem, was ich getan habe, steht mir das nicht zu. Ich bin der schlechteste Mensch, den ich kenne. Schlimmer als alle anderen. Ich habe das verloren, dass im Leben am wichtigsten ist: meine Familie. Meine Frau und meine Kinder. Dich. Ich habe die Menschen, die ich am meisten liebte am stärksten verletzt. Weil ich ein Saufkopf war. Ein Nichtsnutz. Noch schlimmer. Ein Verbrecher, ein Vergewaltiger, ein Bastard... Ich habe es beim besten Willen nicht verdient, auch nur einen Tag länger auf dieser Welt zu sein. Ich werde die Tage verbringen, die Gott mir noch gibt und an meiner Stelle soll jemand anderes die Niere erhalten. Irgendjemand, der sie mehr verdient hat.
Ich habe zu viel geschrieben, ich weiß, dass dich das alles nicht interessiert und du nichts mit mir zu tun haben möchtest, nach allem, was vorgefallen ist. Ich will nicht behaupten, dass ich ein besserer Mensch geworden bin seit meinem Leben im Krankenhaus. Das würde wie in einem schlechten Kitschfilm klingen, bei dem am Ende unbedingt ein Happy Ende stehen muss. Du weißt, dass das Leben kein Film ist. Niemand weiß das so gut wie du.
Du merkst, dass ich abschweife. Ich habe diesen Brief geschrieben, weil ich eine letzte Bitte an dich habe, Andre. Ich möchte, dass du mich im Krankenhaus besucht. Nur ein Mal. Ich würde dich so gerne wiedersehen, auch wenn du das nicht willst. Ich weiß, dass du dir nichts mehr wünscht, als dass ich endlich sterbe und aus deinem Leben endgültig verschwinde (so wie in den letzten Jahren), aber vielleicht ist es doch möglich, dass du für ein paar Minuten zu mir kommst und wir über alles sprechen. Wenn es irgendeinen Teil in deinem Herzen gibt, der mir diesen letzten Wunsch erfüllen kann, dann bitte ich dich um alles in der Welt, dich nach ihm zu richten. Wenn nicht, dann kann ich das verstehen. Bitte erzähle deiner Mutter und auch deinen Geschwistern nichts davon. Ich möchte nicht, dass sie in irgendeiner Weise davon erfahren. Es ist nur eine Angelegenheit zwischen uns beiden. Erzähle ihnen auch nichts von meinem Tod. Wenn es soweit ist, wird das Krankenhaus dich informieren. Möglicherweise sehen wir uns noch davor. Ich hoffe es.
Ich lasse das Blatt sinken, hebe den Blick und sehe direkt in Andres grüne Augen. Keinerlei Emotionen, die Miene ausdruckslos. Wie schafft er das nur?! Lange schweigen wir beide. Um ehrlich zu sein, bin ich einfach im Moment ziemlich sprachlos und weiß gar nicht, was ich sagen soll. Andre scheint jedoch darauf zu warten, dass ich meinen Senf zu der ganze Misere dazugebe. Ich überlege, mein Kopf ist wie leer gefegt.
"Und?", hacke ich nach einer Ewigkeit des stummen Nachdenkens ab.
"Was und?" Obwohl Andre sich beherrscht, höre ich deutlich diesen gefährlichen,nervösen Unterton in seiner Stimme, der nie etwas Gutes verheißt.
"Und - gehst du hin?"
"Ist das dein Ernst?!", zischt er. Ich antworte nicht.
"Was würdest du tun, Dsche?", presst er zwischen zusammengepressten Zähnen hervor.
"Ich würde hingehen..."
Er schnappt nach Luft. "Nach allem, was er mir angetan hat? Hast du sie noch alle?! Er ist ein elendiger Mistkerl, ein Arschloch, die größte Missgeburt, die ich kenne, diese feige Sau!!!"
Ich sehe in sein wutverzerrtes Gesicht. "Er hat mein verdammtes Leben ruiniert! Jahrelang bin ich jede Nacht aufgewacht, habe ihn in meinen Träumen gesehen, wie er mir den Schlafanzug vom Leib reist und seinen dicken Schw..." Er schüttelt sich, während er wieder mit den Tränen kämpft.
"Zum Teufel mit diesem elendigen..." Offenbar fällt ihm kein Schimpfwort mehr ein. "Und jetzt, wo er kurz vorm Verrecken ist, will er, dass ich komme und ihm das alles verzeihe?! Niemals. Nicht mal in hundert Jahren! Dieses widerwärtige Etwas soll im Krankenhaus verrotten!!! Aber ich werde keine einzige Sekunde mit ihm verschwenden. Jetzt, wo er endlich aus meinem Gedanken weg ist und aus meinen Erinnerungen endgültig verbannt... Ich würde es nicht aushalten, noch einmal sein Gesicht zu sehen. Ihm in die Augen zu sehen. Diese Falschheit in seinen Worten, dieses Gebettel nach Mitleid, dieser Abschaum von einem Mensch..." Wutentbrannt schnappt er sich das Kissen und die Bettdecke und knallt sie auf den Boden. Er schlägt seine Faust gegen die Wand, sodass ich Angst bekomme, er könnte sie kaputt machen.
"Andre, es war nur meine Meinung, ok? Ich verstehe es vollkommen, wenn du nicht hingehen wirst." Ich lege ihm beschwichtigend beide Arme auf die Schultern.
"Jetzt redest du schon genauso wie er." Andre ballt die Hände so fest zusammen, dass die Knöchel weiß hervortreten. Ich drehe ihn energisch zu mir um, um ihn davon abzuhalten, weiterhin auf die Wand einzudreschen. Mit zornig blitzenden Augen steht er vor mir. Aber ich weiß, dass er in Wahrheit nicht wütend, sondern einfach nur verletzt ist und sich allein gelassen fühlt, so wie damals.
Ich trete an ihn heran, löse seelenruhig seine geballten Fäuste und verschränke stattdessen unsere Hände miteinander.
"Es wird alles gut, Andre." Ich lächle ihn an. Das Blitzen in seinen Augen verschwindet, sein Blick wird weich, als er sich in meinem verliert. Er lehnt sich vor und fährt mir durch das Haar.
"Küss mich, Jan, damit ich wieder daran glauben kann...", flüstert er gegen meine Lippen. Ich schließe die Augen, tue es und lasse mich fallen in das Gefühl von endlosem Glück.
Schon wieder über 1400 Wörter... Ich habe übrigens die Schiedsrichterausbildung heute bestanden und alle Klausuren liefen echt gut. Und das Kapitel kommt auch rechtzeitig. Bin grade echt happy... ;) Bei 30k Reads kommt die nächste Lesenacht, außer ihr habt einen anderen Wunsch, was es als Dankeschön geben soll. Dann die Vorschläge gerne in die Kommis :* <3 <3 <3