Kapitel 36. Hilf mir

1K 92 12
                                    


Aaron betritt den Raum eine ganze Weile später. Vielleicht sind es auch nur zehn Minuten, jedenfalls ist es die Hölle. Ich schwanke zwischen absoluter Panik und völliger Apathie und an dem mitfühlenden Blick des nickelbebrillten Arztes erkenne ich, dass ich wirklich mitleiderregend aussehen muss.

Nick ist nicht mehr da. 

Ich weine stumm. Weil es so weh tut und aus Frust. Noch mehr Schmerzen, keine freie unverletzte Hand mehr. Die Menschen um mich herum reden von einer Operation, von Untersuchungen und Narkosen. Ich glaube ich sterbe aus Angst.

Aaron ist mehr als blass, als sich unsere Blicke treffen. Allerdings sehe ich durch die Tränen auch nicht wirklich scharf. Vielleicht ist das gar nicht Aaron, sondern eine Wand mit Armen und Beinen. 

"Ich weiss nicht wie das aufgeht. Machen Sie das!", fährt der Oberarzt den Polizisten genervt an und dann ist Aaron plötzlich neben mir. Eine behandschuhte Hand legt sich um meinen Unterarm, dann eine zweite. Etwas rasselt leise.

Flüchtig nehme ich wahr, wie Aaron an meinem Handgelenk herumnestelt, dann nimmt der Druck auf meine schmerzenden Knochen endlich ab. 

Und ich schreie vor Schmerz auf.

"Es tut mir leid-...", höre ich Aarons Stimme an meinem Ohr sagen, dann packt mich jemand grob unter den Schultern und an den Beinen und ich verliere die Orientierung. 

Und dann, Sekunden später, verliere ich auch meine Besinnung. Das dunkle Maul aus Schmerz und Panik schliesst sich hinter mir und alles wird schwarz.

Als ich die Augen wieder öffne, liegen meine Hände auf meinem Bauch. Beide. Die rechte ist geschient, die andere steckt immer noch in der Armschlaufe. Meine Hand tut weh. Es ist ein bohrender pulsierender Schmerz, der mir durch die Knochen fährt. 

"Hallo Andreas."

Ich erhebe überrascht den Blick und begegne Lucas Falc braunen Augen. Der Kommissar lächelt etwas gezwungen und schnipst mit den Fingern in Richtung Uhr. 

"Wir haben nicht so viel Zeit, du musst bald zum Röntgen." 

Verwirrt mustere ich meinen bandagierten Arm.

"Wie lange war ich bewusstlos?", frage ich mit rauer Stimme.

"Nur eine Viertelstunde."

Nicht lang genug um eine OP zu verschlafen.

"Also...", beginnt Falc entschuldigend und ich verstehe sofort, dass er keine guten Neuigkeiten für mich hat. Natürlich nicht.

"Hast du dir das mit dem Anwalt überlegt?", fragt er mit ernster Miene weiter.

"Ich will keinen." Ich bin mir nicht sicher, ob das wirklich stimmt.

"Es sieht nicht gut für dich aus, Andreas. Ist dir das klar?"

Er seufzt leise, als ich ihn schweigend anstarre. Für eine Weile bleibt es still.

"Ich bin eigentlich hier, um dir etwas mitzuteilen...Die Staatsanwaltschaft hat gegen dich einen Haftbefehl beantragt, dass heisst, du wirst in den nächsten Tagen dem Haftrichter vorgeführt werden. Höchstwahrscheinlich wird dem Antrag stattgegeben werden."

"Und was bedeutet das für mich?", frage ich erschöpft, ohne überhaupt zu versuchen, seine Worte nachzuvollziehen. Ich will schlafen, für immer in eine dunkle warme Traumwelt verschwinden.

Falc beisst sich auf die Lippe. 

"Das heisst, dass du in Untersuchungshaft kommst. Oder, wenn ich dir in der Zwischenzeit ein psychiatrisches Gutachten besorge, bis zum Prozessbeginn in der geschlossenen Psychiatrie."

Mir wird kalt. Eiskalt. Natürlich hätte ich das erwarten sollen. Natürlich, natürlich, natürlich. 

"Was ist mit Tom?", frage ich tonlos und merke wie mir Tränen in die Augen schiessen. Tränen, wie lächerlich. Tränen bringen nichts, sie können mich nicht retten.

"Tom...hat ein Alibi zur Tatzeit."

"Und...das schliesst ihn völlig aus?", murmle ich mit bebender Stimme. Das kann nicht sein. Er muss es gewesen sein. Wer sonst? Wer wenn nicht Tom – Tom, der mich schlug, bis ich keine Luft mehr bekam, Tom, der Drogen verkaufte, Tom, der ein gottverdammter Sadist ist?

"Nein, natürlich nicht. Aber du...hast kein Alibi, du hast ein Motiv, deine Fingerabdrücke sind da...du wirst als "psychisch auffällig" beschrieben. Das sind keine guten Karten." 

Jetzt kann ich die Tränen nicht mehr zurückhalten. Warm und nass fliessen sie meine Wangen hinab und ich habe keine Hand frei, um sie wegzuwischen.

"Wann...?"

Er versteht meinen jämmerlichen Versuch einer Frage, ohne dass ich zu Ende sprechen muss. 

"Dein Termin beim Haftrichter wäre morgen gewesen. Aber ich nehme stark an, dass er jetzt verschoben wird", meint er und zieht aufmunternd einen Mundwinkel hoch. 

Es wird für einen Moment still. Draussen im Flur hört man Geschirr klirren, es klingt beinahe heimelig. Nach weissen Tischdecken, Nachtisch und Blumen irgendwie. In meinem wirren irren Kopf zumindest. 

"Wo ist Nick?", frage ich schliesslich. Falc beisst sich abermals auf die Lippe. Das scheint ein Zeichen für schlechte Nachrichten zu sein.

"Es ist ein Zimmer frei geworden. Deshalb hast du jetzt dein eigenes...", meint er behutsam. Ich nicke stumm. 

Krankenhaus, Psychiatrie, Gefängnis. Ich werde Nick wahrscheinlich nie wieder sehen.

"Was ist passiert?", fragt der Kommissar dann mit sanfter Stimme. "Wie ist das mit der Hand passiert?"

Ich zucke abwehrend mit den Schultern.

"Ich habe Panik bekommen, denke ich."

Falc betrachtet mich zweifelnd, als ob ich ihm etwas verschweigen würde. 

"Warum?"

Wieder Schulterzucken. 

"Dein Bettnachbar hat mir erzählt, dass Aaron dich geschlagen hat. Stimmt das?"

Ich nicke schwach, ohne ihn anzusehen.

"Es ist nicht seine Schuld, ich habe es übertrieben", murmle ich erschöpft.

Der Kommissar legt verwirrt den Kopf schräg.

"Was übertrieben?"

Die Tränen kehren zurück.

"Ich kann nicht mehr! Ich will nicht mehr leben. Ich will endlich sterben", stosse ich wimmernd aus. Die salzige Lösung bleibt an meinen Lippen kleben und tropft klebrig von meinem Kinn.

Falcs Blick zeigt Betroffenheit. Er beugt sich etwas zu mir vor und seine wundgebissenen Lippen bewegen sich, als ob er etwas sagen wollte.

"Ich komme hier nicht raus", schluchze ich erschöpft. "Sagen Sie mir, was ich tun soll, ich sehe keinen Ausweg!"

Falc drückt meine Schulter vorsichtig. Eine winzige Geste, ein winziges bisschen Körperkontakt, ein wenig Mensch.

"Es tut mir leid. Es tut mir wirklich leid. Ich weiss, dass das alles schwer ist und ich will dir wirklich helfen. Aber mir sind die Hände gebunden – ich kann deinen Anwalt für dich verständigen, ich kann mich für ein psychiatrisches Gutachten einsetzen, aber viel mehr kann ich nicht tun", redet er mit sanfter Stimme auf mich ein.

"Ich habe Angst", flüstere ich. "Ich habe wahnsinnig Angst."

"Ich weiss", meint der Polizist behutsam. "Ich weiss."

"Es tut alles weh", murmle ich und beobachte wie mein Körper unwillkürlich zu zittern beginnt. Es tut so weh, der Schmerz bohrt sich durch meine Knochen. Er zieht aus meinem Handgelenk, beisst sich in meinem Ellbogen fest und stürzt sich auf meine Brust. 

Ich glaube, ich bekomme wieder eine Panikattacke. 

"Hilf mir..."


Weiter geht's nächste Woche (oder vielleicht schon vorher) nochmal hier :)

Vielen Dank an alle, die abgestimmt und kommentiert haben!

SchattenfallWo Geschichten leben. Entdecke jetzt