Kapitel 83. Stichtag

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Das Justizzentrum ragt hoch in den wolkenverhangenen Himmel. Es erinnert mich an ein Krankenhaus mit seinen vielen Etagen und dem weiten Eingangsbereich, in dem es nach Desinfektionsmittel und Nervosität riecht. Es wäre mir lieber, es wäre klein und harmlos gewesen, das Gebäude, nicht diese hundert Meter hoch.

Unruhig blicke ich in der grossen Eingangshalle umher. Alles ist hier noch im Halbschlaf, still, bis auf flüsternde Stimmen vorne bei den Anmeldeschaltern. Ab und zu klicken Schuhe auf dem steinernen Boden, das Geräusch hallt laut in dem weiten Raum wider. 

"Hier", meint Danny ruhig und drückt mir einen Energieriegel in die Hand. "Iss das."

"Kann grad nicht", erwidere ich müde, nehme das Teil trotzdem. Allein der Kaffee hat mich würgen lassen. Atmen auch irgendwie. Der Gestank nach Kippen draussen vor dem Gerichtsgebäude. 

"Drinnen kannst du nicht mehr", sagt er. Ich nicke, schaue rüber zu zwei Uniformierten, die Eingangskontrollen durchführen. Meine Beine schmerzen, als ob meine Muskelfasern nicht mehr aneinanderhaften wollen. Alles schmerzt, jetzt wo die Angst aus meinem Hirn sich in jeder Zelle meines Körpers festgesetzt hat. Brustschmerz, ich ziehe tief Luft ein, um den Schwindel und das Ersticken fernzuhalten. Alles im Griff, alles im Griff, wiederhole ich. Hah, ich hab gar nichts im Griff, nicht mal das Zittern in meinen Händen. 

Es klingelt, als die nächste Nummer aufgerufen wird. 

"Unsere", sagt Danny und tippt mir dabei auf die Schulter. Mein Herz fühlt sich an, als würde es zerspringen, als ich den Blick von den steinernen Fliesen nehme und hastig auf die Beine komme. B, steht über dem Schalter, Nummer 43. Die Frau hinter der Glasscheibe schenkt uns einen beiläufigen Blick. 

"Ausweis und Vorladung bitte", meint sie unaufgeregt. Für sie ist es ein Arbeitstag wie jeder andere auch. Ich klammere mich an der Steinkante des Schalters ab, um gerade stehen zu können. Ihre Finger tippen rasch auf dem altmodischen Computer. 

"Dann bitte durch die Kontrolle."

Danny geht vor. Sein Rucksack verschwindet auf dem kleinen Fliessband auf die andere Seite, während er durch den Metalldetektor tritt. Ich folge ihm zögerlich, als der Wachmann mich heranwinkt. Es piepst laut. 

"Irgendwelche metallenen Gegenstände?", fragt der Uniformierte kühl. Ich schüttle den Kopf. Das einzige, was noch in meinen Taschen steckt, sind ein viel zu harter Stressball und der Riegel, der allmählich zu schmelzen beginnt. 

"Schraube", bemerkt jemand hinter mir. "Er hat eine Schraube im Arm."

Falc zieht kurz die Mundwinkel hoch, als ich mich nach ihm umdrehe. 

"Ja", wiederhole ich stumpf. "Ich hab mir den Arm gebrochen."

"Arztbescheinigung?", fragt der Mann knapp. 

"Im Rucksack", erwidere ich müde, ziehe gleichzeitig den Ärmel des Jacketts zurück, um die lange Narbe zu zeigen. "In Ordnung", meint er bloss. "Sie können weitergehen."

Falc ist verschwunden, als ich mich noch mal umdrehe, so als wäre er nie da gewesen. Vielleicht beginne ich tatsächlich durchzudrehen. Ich finde Danny ein paar Meter weiter vorne im Gespräch mit zwei Frauen vom Jugendamt, die mir flüchtig bekannt sind. 

"Andreas", begrüsst mich meine Anwältin, bevor ich mich schweigend irgendwo an die Wand stützen kann. Sie lächelt ein wenig, knapp genug, damit sie nicht so aussieht, als würde sie meine Beerdigung besuchen. "Wie geht es dir?"

"Geht", erwidere ich nur. "Ich will einfach, dass es vorbei ist."

Sie nickt. "Ich bin optimistisch. Halt dich einfach an die Tatsachen und bleib ruhig, dann wird das schon. Vergiss nicht, dass wir das Urteil immer noch weiter ziehen können."

SchattenfallWo Geschichten leben. Entdecke jetzt