Kapitel 72. Messer im Kopf

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Die Klinge hat vorne eine kleine Delle, das Metall biegt sich ein wenig nach rechts. Der Griff ist schwarzer Plastik, mit ein paar Kratzern und eingeschmolzenen Stellen. Und Blut. Ich darf den Plastiksack aufheben, in dem es liegt. 

"Und? Kommt dir das bekannt vor?"

"Ja", sage ich matt. "Das war in der Küche."

"Kannst du mir beschreiben, wo genau?"

"In...der Schublade...gleich...so schräg unter dem Waschbecken. Mit anderen Messern und Gabeln und so, eigentlich alles Besteck."

Der Polizist schreibt auf. Er nimmt mir das Messer wieder weg, meine behandschuhten Finger bleiben noch kurz am Plastik hängen, bevor sie auf die Tischplatte fallen. Ich fühle mich taub. Mamas Blut an der Klinge zu sehen, lässt meinen Magen krampfen. 

"Gut, das war für den Moment alles", sagt der Kommissar knapp. Ich kenne ihn nicht, seine grauen Augenbrauen sind gefurcht. Er trägt ein T-Shirt, obwohl es hier drin eisig ist. 

"Hast du noch irgendwelche Fragen?"

"Nein", bringe ich erstickt hervor und starre rüber zur Wand. Die Uhr zeigt kurz nach acht. Das Messer lag hinter dem Kühlschrank, vielleicht auch unter. Mit getrocknetem Blut und allem. Die Kinder der Menschen, die jetzt dort leben, haben es gefunden. Nicht die Spurensicherung. Hätte an ihrer Stelle auch nicht dahinter geschaut, dort, wo all die verlorenen Essensreste liegen und die Wand wahrscheinlich schimmelt. Wahrscheinlich sollte ich fragen, ob Fingerabdrücke drauf sind. Meine sind es bestimmt. Meine sind überall, wie das Blut. 

"In Ordnung", wiederholt der Beamte und sieht auf die Uhr. "Brauchst du ein Glas Wasser?"

"Nein", sage ich knapp. "Kann ich gehen?"

Er nickt. Meine Beine zittern, als er mich aus dem Polizeigebäude führt. Es ist kalt hier, kalt und trostlos, andere Polizisten führen einen Mann in Handschellen an mir vorbei, er stolpert beinahe über die Treppenstufen am Eingang. 

"Ich glaub, ich muss kotzen", bringe ich hervor, kurz bevor wir das Auto erreichen. Ich stütze mich mit dem Arm gegen die Betonwand neben mir, sonderlich viel kommt nicht raus, ich hab's nicht geschafft, Frühstück zu essen. 

"Hier, spül dir den Mund aus", bemerkt er und drückt mir eine Flasche in die Hand. Ich tue, was er sagt, spucke ihm praktisch vor die Füsse. Er springt ein Stück zurück, selbst als ich mich wieder ganz aufrichte, hält er einen merklichen Sicherheitsabstand ein. Ich kann in seinem Gesicht sehen, wie ungern er mich jetzt in seinem teuren Auto Platz nehmen lassen will. 

"Entschuldigung", bringe ich heiser hervor und beschliesse den beschämenden Moment wenigstens für mich zu nutzen. "Ich kann auch die S-Bahn nehmen, sind nur zwei Stationen." 

Er zögert kurz, immer noch nur im T-Shirt, der Waffengurt baumelt von seiner Hüfte, als ob er in einem schlecht gedrehten Western wäre. Ich weiss, dass er und Falc sich kennen, aber gerade kann ich gar nicht einschätzen, was sie voneinander halten. Der neue Kommissar ist freundlich, aber distanziert, sein graues Haar lichtet sich am Hinterkopf bereits, die Haut an seinen nackten Armen hat eine tiefbraune Solariumfarbe. 

"Meinetwegen", sagt er mit einem Blick zu seinem sündhaft teuren Wagen. "Mach keinen Unsinn, sonst haben wir ein Problem."

"Werde ich nicht", antworte ich endlos kooperativ und nehme das Taschentuch an, dass er mir gönnerhaft reicht. Die Haltestelle ist nur ein paar Hundert Meter entfernt, irgendwie schaffe ich es nicht ganz, meine Füsse hoch genug zu heben, die Sohlen schleifen kurz über den Asphalt. Ich will nicht zur Schule, aber noch weniger will ich Stress mit der Polizei, also kaufe ich mir einen Fahrschein für lächerliche 1.20 € und lehne mich gegen eine verdreckte Werbesäule. Meine Lippen schmecken nach Blut, als ich draufbeisse, um nicht an das scheiss Messer zu denken und Mama und die Übelkeit, die mich beben lässt. Vielleicht sollte ich Nick anrufen, bevor ich eine Panikattacke kriege. Vielleicht auch nicht, denn Nick hat Vorlesung und allein beim Gedanken daran, ihn wieder einmal mit meiner instabilen Psyche zu belästigen, lässt mich innerlich schütteln.  

Natürlich ruf ich ihn trotzdem an. Mein Handy klingelt laut, die Menschen um mich herum werfen mir genervte Blicke zu. Ich habe ohnehin keine Kopfhörer mehr. Er nimmt nicht ab. Meine Beine zittern bedenklich, als ich vor der Schule aussteige. Warum kann er nicht einfach abnehmen?

Alle sehen auf, als ich das Klassenzimmer für meinen LK betrete. Ihre Gesichter sind verschwommen, mein üblicher Sitzplatz ist besetzt, ich finde keinen, als ich mich mit leiser Verzweiflung im Raum umsehe. 

"Hier", erbarmt sich schliesslich irgendwer und deutet auf einen leeren Stuhl neben sich. Erleichtert lasse ich mich darauf fallen, im selben Moment, in dem mein Handy laut klingelt. "Entschuldigung", bringe ich fiebrig hervor und versuche Nicks Anruf wegzudrücken, aber meine Finger rutschen immer wieder auf dem glatten Bildschirm aus. Wie auf frischem Blut. Blut, Blut, Blut, ich sehe es überall an meinen Fingern kleben.

"Gib mal", unterbricht mich Gloria knapp. Sie nimmt mir das Gerät aus der Hand, der Klingelton verstummt beinahe augenblicklich. Ihre dunklen Augen mustern mich irritiert, als unsere Blicke sich begegnen. 

"Jetzt aber das Handy wegpacken, ja?", bemerkt meine Lehrerin mit mildem Tadel. Ich nicke stumm. Mein Unterarm ist mit roten Abdrücken übersäht, meine eigenen Fingernägel wahrscheinlich.

"Was ist mit dir?", fragt Gloria befremdet. "War's so schlimm bei den Bullen?"

"Nein", murmle ich, nein, ich kann an nichts anderes denken, nur an das Messer, das dort zwischen Wand und Kühlschrank blutig im Dreck liegt. 

"Ey, lass mal rausgehen", sagt sie kurzentschlossen und fasst mich am Ärmel, mein Handy immer noch in der anderen Hand. Wortlos eskortiert sie mich aus dem Klassenraum in den leeren Flur raus, die Lehrerin nickt ihr dankbar zu.

"Ruf deinen Freund zurück", bemerkt sie, als die Tür hinter uns zuschlägt und wirft sich das dichte, dunkle Haar über die Schulter. "Ist easy, wenn wer motzt, sag ich, dass es ein Notfall ist."

"Ich will nicht, dass du deswegen Probleme kriegst."

Glorias Augen funkeln belustigt.

"Ich bin Stufensprecherin, die lieben mich eh alle. Ruf schon an."

"Danke", murmle ich und tippe auf Nicks Profil. Gloria schnaubt, als sein Profilbild zusammen mit dem Anrufsymbol erscheint. 

"Immerhin mag er Katzen", bemerkt sie trocken, bevor sie ein paar Meter weiter in den Flur hinein verschwindet, um mir Platz zu lassen. 

"Hi, was ist los?", fragt er sichtlich beunruhigt. Ich kann ihm keinen Vorwurf machen, ich glaube, ich habe ihn überhaupt noch nie zuvor angerufen. 

"Ich...bin...ich weiss nicht", bringe ich zusammenhangslos hervor. "Tut mir leid, ich wollte dich nicht stören, du hast bestimmt Vorlesung."

"Du störst nicht, Tres. Was ist los?"

 "Wirklich....ich...ich...ich war bei der Polizei. Sie haben mir dieses Messer gezeigt, das war hinter dem Kühlschrank...und da war noch Blut dran und alles...und jetzt bin ich in der Schule und ich...ich kann nicht richtig denken...ich...keine Ahnung..."

Nick unterbricht mich irgendwann sachte, als ich nichts mehr als traurige Wortfetzen rauskriege. 

"Das ist übel. Wie geht es dir jetzt? Bist du alleine?"

"Okay, denk ich", murmle ich. "Ich musste vorher kotzen, aber jetzt ist besser."

Nick ist einen Moment lang still. Ich höre ihn im Hintergrund tippen. 

"Willst du, dass ich vorbeikomme?", fragt er schliesslich

"Ich...ich weiss nicht. Du musst nicht, das hat schon geholfen."

"Es ist kein Problem, ich komme gerne. Wie du willst."

"Vielleicht...", gebe ich zögerlich zu.

"Okay", antwortet Nick."Bis gleich."



Was haltet ihr von Gloria? Und Nick?

Als nächstes geht es endlich wieder im anderen Buch mit Luis weiter, allerdings wahrscheinlich erst nächste Woche, da ich am Wochenende Geburtstag habe :,)

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