Kapitel 61. Gloria

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(leichte) Triggerwarnung für Essstörungen und Beschreibung körperlicher Gewalt und Homophobie.

Genervt betrachte ich die Schlange von Menschen, die sich vor mir erstreckt. Kichernd und schwatzend führt sie im rechten Winkel aus dem Korridor in die hellerleuchtete Mensa. Irgendein menschenhassender Innenarchitekt hat alle Flure dunkelgrün gestrichen, dunkelgrün genug, um jegliches Licht aus den hohen, spärlichen Fenstern gefrässig zu schlucken. Jetzt ist draussen der Himmel von schwarzgrauen Wolken bedeckt und im Korridor ist es stockfinster. Gelangweilt tippe ich auf meinem Handy rum, lasse meinen virtuellen Wurm andere virtuelle Würmer fressen bis er von grösseren virtuellen Würmern gefressen wird.

Die Schlange bewegt sich langsam vorwärts, bis ich schliesslich vom orangenen Licht geblendet die weitläufige Mensa betrete. Es riecht nach Kartoffelbrei und irgendeinem gesunden Kohlzeugs, obwohl ursprünglich keines davon auf dem Menüplan stand. Trotzdem landet es jetzt mit einem matschigen Geräusch auf meinem Teller und verteilt sich als grünliche Sauce auf dem Küchenporzellan.

Ich bezahle mit schlechtem Gewissen, als ob ich das Geld irgendwie sinnvoller verwenden könnte und setze mich an das leere Ende eines der meterlangen, weissen Tische. Eine halbe Minute später zieht jemand den Stuhl neben mir derart heftig zurück, dass ich erschrocken zur Seite zucke. Gloria lächelt bloss wissend.

"Hi Edward, was dagegen, wenn ich mich dazu setze?"

"Ja", sage ich knapp und zwinge mich dazu, einen Bissen zu nehmen. Danny hat nie über das Mittagessen gesprochen, aber ganz offensichtlich ist das hier sein Plan. Selbst eine Überwachungskamera wäre mir lieber gewesen.

"Danke", antwortet Gloria spöttisch grinsend und knallt ihr Tablett so neben mir auf den Tisch, dass die Cola überschwappt.

"Freut mich, dass du dir meinen Rat zu Herzen genommen hast", bemerkt sie trocken, eine Gabel voll Essen bereits im Mund. Ich esse stumm weiter.

"Du hast es nicht so mit Menschen, nicht wahr?", fragt sie nach einer Weile und leert nebenbei die Hälfte ihrer Cola runter.

"Vielleicht auch einfach nicht mit dir", murmle ich erschöpft.

Sie lacht, sodass ihre weissen Zähne aufblitzen. "Hm, nein, wirkt ziemlich generell. Entweder das, oder du magst es, geheimnisvoller Aussenseiter zu spielen. Aber glaub mir, das funktioniert nur die ersten zwei Wochen."

Sie schluckt eine Portion Kartoffelbrei runter und blinzelt belustigt in meine Richtung.

"Danach findet dich jeder bloss übelst nervig."

Ich zucke mit den Schultern. Gloria seufzt melodramatisch und wischt sich das schwere, dunkle Haar aus der Stirn.

"Mein Gott, du bist so misstrauisch, es ist zum Kotzen."

Sie stützt jetzt das Kinn in die Hände und beobachtet mich interessiert beim Essen.

"Hat ja nicht viel gebraucht, um dich wieder zum Essen zu bringen. Du musst mächtig Schiss vor deinem Kommissar haben."

Genervt blicke ich hoch in ihre ständig spöttischen Habichtsaugen.

"Vielleicht. Was interessiert's dich?"

Sie grinst mit weissen Zähnen.

"Du bist jetzt Familie, ob du willst oder nicht. Natürlich interessiert's mich."

"Ah ja", murmle ich bloss. "Wie viel zahlt dir Danny, um hier zu sitzen?"

"Dreissig pro Woche. Zahl mir vierzig und du bist mich los."

"Vergiss es."

Gloria zuckt unbeeindruckt mit den Schultern.

"Wieso? Lohnt sich kaum, dein Zimmer richtig einzurichten, wenn du eh bald rausfliegst."

Ich schliesse für einen Moment erschöpft die Augen, versuche nicht an das viele Essen in meinem Magen zu denken, das gerade droht wieder hochzukommen. Zu laut, zu viel, ich würde mir eigentlich gerne die Ohren zu halten. Eigentlich will ich Nick etwas kaufen. Blumen vielleicht. Keine Ahnung. Ich höre meine eigenen Gedanken nicht mehr, nur  hunderte Menschen um mich herum, wie sie atmen, reden, gehen, lachen.

Stühle scharren. Als ich aufsehe, haben sich ein paar von Glorias Freunden mit respektvollem Abstand zu uns an den Tisch gesetzt und beobachten uns neugierig. Ich erkenne sie aus einigen Fächern.

"Ihr könnt euch ruhig hier hinsetzen", bemerkt Gloria belustigt. Ihre schlanke Hand mit den gepflegten Fingernägeln liegt plötzlich in meinen Haaren, flach, als ob ich ihr braves Haustier wäre.

"Das ist Edward", stellt sie mich wenig überraschend vor. Wenn ich mich richtig erinnere, hat sie mich noch nie mit meinem echten Namen angesprochen. Eigentlich kann es mir auch egal sein, er hat ziemlich wenig mit mir zu tun. Sie tätschelt meinen Kopf, demütigend, aber das allein ist nicht weiter schlimm. Tom hat das manchmal beim Frühstück gemacht, übertrieben väterlich, dann die Finger um die Strähnen geschlossen, meinen Kopf in die Höhe gerissen und mit voller Wucht in den Küchentisch geschmettert. Schwuchteln haben das verdient. Vielleicht hätte ich mir die Haare abrasieren sollen.

Gloria sieht mich bloss aus ihren dunklen, spöttischen Augen amüsiert an, als ob sie erwarten würde, dass ich irgendwie reagiere, wütend werde vielleicht. Auch Nick würde wahrscheinlich etwas anderes von mir erwarten, als meine müde, gereizte Apathie. Er muss ziemlich genervt davon sein, mich ständig verteidigen zu müssen, weil ich es selbst nicht tue.

"Ich bin Tres", bemerke ich matt und schiebe ihre Hand zur Seite, bis sie sie endlich aus meinem Haar nimmt. Mein Teller ist endlich leer und gibt mir damit eine Ausrede, um wortlos aufzustehen und mir durch die langen Tische einen Weg zur vollgestopften Geschirrablage am Ausgang der Mensa zu bahnen.

"Was ist Tres für ein dummer Spitzname? Hast du dir den selbst gegeben?"

Gloria fängt mich ab, bevor ich mein Glas zu seinen dreckigen Artgenossen stellen kann. Sie hält meine Tasche in der Hand, die ich offensichtlich bei meinem übereilten Abgang liegen lassen habe.

"Was ist eigentlich dein Problem?", murmle ich irritiert. Ihr Gesicht erhellt sich kaum merklich, als hätte sie den ganzen Tag schon auf diese Frage gewartet.

"Du", sagt sie belustigt. "War das nicht schon klar?"

Ich wische mir das zerzauste Haar zurück ins Gesicht, damit sie mein verkrampftes Lächeln kaschieren. Sollte eigentlich klar sein, mittlerweile. Ich bin immer irgendwie falsch, manchmal lässt es sich bloss besser verleugnen. Mit Nick manchmal. Manchmal nicht.

"Ich verstehe nicht, was du von mir willst", bemerke ich müde. Sie drückt mir die Tasche zurück in die Hand, sie fällt auf den schmutzigen Boden, weil ich nicht schnell genug reagiere.

"Halt dich von Nastja fern, dann sind wir ok", sagt sie ohne ihren sonst so omnipräsenten Spott, bevor sie mit den Schultern zuckt und die traurige Plastiktüte, die mir als Tasche dient mit einem Fusstritt in meine Richtung befördert.

"Sonst bist du wirklich mein Problem."

Was haltet ihr von Gloria?

Ich habe unerwartet ewig für dieses Kapitel gebraucht, deshalb die ungeplante Verspätung. Diese Woche geht es hier nochmal weiter :))
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