Kapitel 45. Zweifel und Verzweiflung

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Aaron schweigt, solange meine Bezugspflege im Zimmer ist. Frau Lechner heisst sie, mit langem rotblondem Pferdeschwanz und kritischen grauen Augen, die absolut jede meiner noch so kleinen Bewegungen wahrnehmen. Sie ist klein, wirklich klein, um die 1'60 vielleicht und sie verhält sich mir gegenüber in etwa so, als ob ich ein anstrengender Hund wäre, um den sie sich zu kümmern hat. Ein bissiger noch dazu. Und sie redet mit mir, in einem freundlich-tadelnden Tonfall, der mich manchmal beinahe zum Lachen bringt. Manchmal darf ich sie sogar Camille nennen.

Aber heute schweigt auch Camille. Wortlos hilft sie mir aus der durchweichten Kleidung, wischt das Blut von meiner Hand und stützt mich auf dem Weg zur Dusche. Erst als das warme Wasser hart auf meine Schultern prasselt, höre ich sie hinter dem ausgebleichten Vorhang leise reden.

Ich dusche nicht lange. Das Wasser ist zu heiss eingestellt und brennt wie Feuer, tausende kleine Scheiterhaufen, die meine blasse Haut mit schwarzem Russ tränken. Und trotzdem verschwindet die Kälte nicht, trotzdem hört das Zittern nicht auf und als ich aus der Dusche steige, merke ich, dass es auch die Tränen nicht tun.

Mama ist tot, sie liegt als hübsche Puppe in einem hübschen Holzsarg und muss sich nie mehr Sorgen machen. Und alles, was ich je für sie getan habe, war vergebens.

Das auf der Strasse Drogen verticken mit 13 war vergeblich, die ganzen Lügen beim Jugendamt, die guten Noten in der Schule, die ganzen Nebenjobs, die Versuche sich das Leben zu nehmen, die Psychiatrieaufenthalte, die Faustschläge, die vielen blaugeschlagenen Augen und blutenden Lippen. Alles für nichts. Sie blieb bei Tom und den Drogen. Und beim Tod, der sie sich früher oder später aus der Überdosis geholt hätte.

Camille schient meinen schmerzenden Arm wieder. Fragt mich, ob ich Schmerzmittel brauche. Ich schüttle stumm den Kopf.

"Ich bin gleich wieder da", sagt sie und verschwindet mit einem Wippen ihres langen Haars aus der Tür.

Irgendetwas muss ich falsch gemacht haben. Nicht mit Camille, mit meinem Leben. Wie wäre es gelaufen, wenn ich nicht alles für sie getan hätte?

"Aaron", sage ich leise. Er hebt den Kopf und mustert mich, die hellen Augenbrauen gefurcht. Genervt ist der Begriff, der zu seinem Ausdruck passt. 

"Ich habe kein Fieber, oder?"

Er runzelt die Stirn. "Nein. Noch nicht zumindest."

"Warum redest du nicht mit mir?"

"Ich sollte gar nicht hier sein", meint er unerwartet bitter und sieht wieder zur Tür hinüber.

"Du willst auch nicht hier sein."

Er will es wirklich nicht. Sein Blick fliegt ständig zur Tür hinüber, hin und zurück, wie ein aufgeregter Kanarienvogel im Käfig. Mit einem Seufzen dreht er sich zu mir hin. 

"Es tut mir leid, dass ich dich geschlagen habe. Es tut mir wirklich wirklich leid. Du hast Panik bekommen und ich habe völlig falsch darauf reagiert. So etwas sollte nicht passieren und ich habe jegliche Konsequenzen voll und ganz verdient."

"Es ist nicht schlimm. Es war nur eine Ohrfeige."

Der blonde Polizist betrachtet mich wortlos. 

"Es ist schlimm, auch wenn es objektiv nicht so schlimm war, wie die Dinge, die dir andere angetan haben. Ich habe damit viel kaputt gemacht. Wir haben uns nicht schlecht verstanden, es ging dir ein wenig besser und dann habe ich den grössten Scheiss gemacht, den ich überhaupt machen konnte."

"Menschen machen nunmal Scheiss", bemerke ich wenig geistreich. Aaron schüttelt bloss matt den Kopf und schliesst für eine Sekunde die Augen. Auf seinen Lippen liegt ein trockenes Lächeln.

"Hör auf damit."

"Womit?"

"Hör auf zu rechtfertigen, was ich getan habe."

"Hör auf zu übertreiben. Du hast mir im Affekt eine Ohrfeige verpasst, und? Es war nicht schlimm, weisst du wieviele Ohrfeigen ich in meinem Leben schon gekriegt habe? Es tut viel mehr weh, dass du nicht mehr mit mir redest."

Aaron stützt das Kinn in die Hände und seufzt, als ob ich ein nerviges Kleinkind wäre.

"Ich rede gerade mit dir."

Er schaut wieder zur Tür, vorbei an den abgeblätterten Krankenhauswänden, den gelblichen Schränken und aufgestapelten Kistchen mit Verbandsmaterial. 

"Leg mir Handschellen an, dann kannst du hier raus", sage ich irgendwann in die drückende Stille hinein. Aaron hebt abrupt den Kopf, sodass die hellen Strähnen kurz in der Luft umherwirbeln.

"Findest du das witzig?", meint er scharf. Verwirrt schüttle ich den Kopf.

"Ich meine es ernst. Wenn du so gerne hier rauswillst, geh, du willst sicher nach Falc sehen", antworte ich und begegne seinem dunklen Blick verunsichert. Aaron sagt nichts, stattdessen drückt er wortlos den Meldeknopf.

"Du weisst, dass ich das nicht kann", seufzt er und lehnt sich wieder ein Stück zurück. "Du weisst auch, was das letzte Mal passiert ist. Ich kann hier nicht weg."

Das Schluchzen, das sich in meinem Hals aufbaut, nimmt mir die Sprache. Es tut weh, ihn so reden zu hören. Es tut weh, aber ich verstehe es. Meine Tränen scheinen das anders zu sehen.

Aarons Gesichtsausdruck wird plötzlich sanfter, er beugt sich auf die Bettkante gestützt ein winziges Stück zu mir vor. 

"Es tut mir leid, ich bin nur gestresst, ich denke nicht mehr klar. Ich mache mir Sorgen um Lucas und ich weiss nicht was passiert ist und...ich kann hier nicht weg", sagt er, ohne mir dabei wirklich in die Augen zu sehen.

"Und du glaubst, dass ich an seinem Zustand schuld bin", konstatiere ich knapp.

Jetzt sieht er mich an. Es braucht keinen Gedankenleser, um zu wissen, dass er das denkt. Ich sehe es in seinen Augen.

"Warum fragst du mich nicht einfach, was passiert ist?"

Die Verlegenheit in seinem Blick verrät ihn. Betreten nestelt er am Ärmel seines Pullis herum.

"Du glaubst mir nicht", flüstere ich erstaunt. "Du glaubst, ich würde dich anlügen."

Sein Schweigen ist Antwort genug. Sein Blick verharrt eine Weile resigniert auf mir und er senkt ihn erst, als er endlich zum Reden ansetzt.

"Sei mir nicht böse, aber ich will einfach erst mit ihm reden."

"Ich verstehe", murmle ich und bringe ein gequältes Lächeln zustande. "Aber ich habe dich nie angelogen. Nie. Weder dich noch Falc."

Er nickt matt, wenig überzeugt. Erst als die Tür schliesslich aufgeht und die diensthabende Assistenzärztin eintritt, die das Pech hatte, Camille als erstes über den Weg zu laufen, sieht er wieder zu mir rüber.

"Es ist mein Job dir zu misstrauen, Andreas."


Ich hasse dieses Kapitel leidenschaftlich, aber ich hoffe, dass euch das nicht gleich geht. 

Könnt ihr Aarons Gefühle nachvollziehen? Und findet ihr seine Art damit umzugehen angemessen? 


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