Kapitel 67. Mies

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Mein Kissen ist weich, weich genug, dass ich mein Gesicht darin verbergen kann. Ich ziehe instinktiv die Beine an, um möglichst viel von der schläfrigen Wärme festzuhalten, die mich plötzlich zu verlassen scheint. Meine Schultern frieren bereits, als ich die Augen öffne, um nach meiner Decke zu tasten. Ich kriege sie im selben Moment zu fassen, in dem ich Danny bemerke, der neben meinem Bett steht.

"Hi", begrüsst er mich mit einem freundlichen Lächeln. "Wie geht's dir?"

"Gut", murmle ich verschlafen und richte mich unkoordiniert im Bett auf. Mein Gesicht fühlt sich unangenehm wund an, wahrscheinlich auch, weil ich die ganze Nacht darauf geschlafen habe. Ich zweifle nicht daran, dass es auch dementsprechend aussieht. 

"Keine Kopfschmerzen mehr?", fragt Danny und mir fällt auf, dass der Himmel hinter meinen weissen Gardinen kohlschwarz ist. "Nein", antworte ich zerstreut und wische mir die aufgebauschten Locken aus der Stirn. Durch die halboffene Zimmertür kann ich das Klirren von Geschirr und laute Stimmen hören, es riecht stark nach Essen.  

"Es gibt Abendessen", sagt der Sozialarbeiter mit einem Kopfnicken in Richtung Küche."Ich dachte, du solltest wenigstens eine richtige Mahlzeit essen, deswegen hab ich dich geweckt."

Ich nicke, obwohl mir gar nicht nach Essen ist. Danny lächelt und kippt mit dem Schlüssel in einer Hand das Fenster über dem Schreibtisch offen, die kalte Winterluft fegt eisig in mein Zimmer. Mir fällt auf, wie gerne ich mal selbst wieder darüber entscheiden würde, wann ich ein Fenster öffnen oder schliessen will. Vielleicht sollte ich es in der Schule mal ausprobieren, bevor ich es verlerne.

"Es dauert noch einen Moment mit dem Essen, falls du dich noch frisch machen willst oder so. Zehn Minuten vielleicht", bemerkt Danny und steckt den Schlüssel zurück in seine Hosentasche. Jeans natürlich, kombiniert mit Norwegerpulli und Hausschuhen.

"Danke", murmle ich überfordert und greife nach meinem Handy, dass neben meinem Bett auf dem Boden liegt. "Du kommst klar?", fragt mein Betreuer, als ich seinem Blick begegne. "Ja", sage ich verlegen und lasse meinen Bildschirm aufleuchten. Ein paar Nachrichten von Nick leuchten auf dem Bildschirm auf, weiter unten verpasste Anrufe von Falc.

"Dann bis gleich", meint Danny mit einem Lächeln und deutet zum halboffenen Fenster rüber. "Einfach schliessen, wenn dir kalt ist."

"Danke", bringe ich noch knapp hervor, bevor er das Zimmer verlässt und mich allein zurücklässt. Ich bleibe noch einen Moment sitzen, höre dem Regen zu, der gegen die Fensterscheibe prasselt. Es riecht nach Abgasen und ein wenig feuchter Erde, die feinen Haare auf meinen nackten Armen stellen sich auf, als eine Windböe ins Zimmer fegt. Mein durchgeschüttelter Kopf sagt mir, dass ich noch hundert Stunden mehr schlafen könnte, aber ich zwinge mich aufzustehen. Zehn Minuten sind nicht sonderlich lang, mittlerweile sind es wahrscheinlich fünf. Fahrig ziehe ich mir einen Pulli über den grossen, blauen Fleck, den der Venenkatheter auf meinem Arm hinterlassen hat. Er sieht ein wenig aus wie ein Herz, Nick würde er bestimmt gefallen. Seine Blumen stehen immer noch in der Vase, der Wind fegt die abgefallenen Blütenblätter von der Tischplatte, sie bleiben an meiner Fusssohle kleben, als ich aus dem Zimmer trete.

Ivo sitzt im Wohnzimmer, halb versunken in einem der Sitzsäcke, den Kopf zurückgelehnt. Er scheint mich nicht zu bemerken, als ich an ihm vorbei ins Bad verschwinde und die Tür hinter mir abschliesse. Tablette schlucken, auf Klo gehen, dann begegne ich mir im Spiegel. Ich sehe scheisse aus, da gibt es nichts zu beschönigen. Ich weiss, dass ich froh sein kann, dass die Verbände wenigstens mein halbes Gesicht bedecken, die verfärbten Stellen an den Rändern lassen nichts Gutes erahnen. Eigentlich bin ich erstaunt, dass Nick mich überhaupt noch anschauen kann.

Resigniert versuche ich wenigstens noch meine verknoteten Haare zu kämmen. Die Plastikbürste aus dem Krankenhaus bleibt erbärmlich in meinen Locken hängen, als ich entnervt dran ziehe, fällt auch das Polster mit den Borsten raus.

"Andreas, Ivo, es gibt Essen!", unterbricht mich Danny im selben Moment, in dem mir der Rest der Bürste auf den Kleinzeh fällt. Frustriert hebe ich das Scheissteil auf und streiche mir wenigstens das wirre Haar über die bandagierte Seite meines Kopfes, wo ich eh nichts sehen kann, Gaze-Augenklappe sei Dank.

Ivo sieht überrascht zu mir rüber, als ich in den Flur trete. Er mustert mich unverhohlen, als ich mich verlegen an ihm vorbei in die grosse Küche drücke.

"Hab ihn gar nicht gehört", sagt er zu Danny, der mir einen Stuhl am Esstisch zurückschiebt, an dem meine Mitbewohnerinnen schon sitzen. Nastja schenkt mir ein zaghaftes Lächeln, das ich nicht wirklich erwidern kann. Gloria wirft mir einen kurzen, genervten Blick zu, bevor sie Danny auffordernd seinen Teller hinhält und eine volle Kelle Suppe reinklatscht.

"Ich hoffe, du magst Kartoffelsuppe. Wir dachten, dass du damit wahrscheinlich besser klar kommst", bemerkt mein Betreuer mit einem Wink zu meinem kaputten Gesicht und reicht mir den Teller. Gloria schnaubt spöttisch, sagt aber nichts, was schon fast einem Friedensangebot gleichkommt. 

Auf der Suche nach Ablenkung senke ich den Blick und scrolle stattdessen durch die Nachrichten auf meinem Handy. Insgesamt fünf verpasste Anrufe von Falc, alle vom vergangenen Freitag, im Chat stehen vier bereits gelöschte Mitteilungen. Wie geht es dir?, hat er vor gut einer Stunde geschrieben. "Gut", antworte ich einsilbig. 

"Leg doch das Handy beim Essen bitte weg, Andreas", unterbricht mich Danny, bevor ich Nicks Nachrichten anschauen kann. Verlegen schiebe ich es zurück in meine Hosentasche und zwinge mich stattdessen ein paar Löffel Suppe zu schlucken. Es schmeckt nicht schlecht, aber die Naht in meiner Mundhöhle verdirbt mir rasch den Appetit, sie zieht unangenehm, der Faden fühlt sich unbehaglich gross an, als ob ich ihn jeden Moment runterschlucken könnte.

"Tut's weh?", fragt Ivo nach einer Weile, in denen ich bemüht abwesend in meinen nicht leerer werdenden Teller starre. "Geht", murmle ich beschämt und nehme bestimmt den hundertsten Schluck Wasser. Es schmeckt nach Eisen, alles schmeckt die letzten Tage über nach Eisen, als hätte jemand statt Salz Rost übers Essen gestreut.

"Wusste gar nicht, dass du einen Freund hast", sagt Gloria völlig aus dem Zusammenhang gerissen. Ich lasse den Löffel sinken, er versinkt komplett in der Suppe. Sie sehen mich alle an.

"Hab ich nicht", murmle ich überfordert und schliesse meine Hand hart um mein Glas. Aus dem Augenwinkel spüre ich Ivos Blick auf mir. Ich kann das Wort Schwuchtel in meinen Ohren klingeln hören. Schwuchtel, Schwuchtel, Schwuchtel und dann ein Tritt ins Gesicht.

"Schon klar, du schmust einfach so mit fremden Typen im Schulhof rum", spottet sie unberührt weiter. Mir wird ein wenig übel, aber ich zwinge mich stur geradeaus zu schauen. Jämmerlich, furchtbar jämmerlich. Es fühlt sich an, als hätte ich Nick verraten. Natürlich ist er mein Freund, natürlich, natürlich, natürlich, unnatürlich.

"Gloria, lass das", unterbricht Danny sie endlich. "Das geht dich nichts an."

"Nicht meine Schuld, wenn er's vor der ganzen Schule macht", sagt sie bloss. Ich frage mich, ob es mit Absicht so zweideutig klingt.

"Ich geh in mein Zimmer, danke fürs Essen", bringe ich knapp hervor und schiebe den Stuhl zurück. Nastja tut es mir gleich.

"Du bist so mies", höre ich Ivo sagen, bevor die Tür hinter mir ins Schloss fällt. "Richtig fucking mies."


Smells like trauma. Nein, ohne Witz, könnt ihr Andreas (Über)reaktion bei dem Thema verstehen?

Die erste Uniwoche war heftig anstrengend, deswegen entschuldigt bitte die Verspätung :,)

Ich glaube, es ist realistisch, dass diese Woche sicher noch ein Kapitel kommt :))

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