Kapitel 15.

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Meine Kleidung ist völlig durchnässt, als ich in den dunklen Flur des Hauses trete und ich spüre, wie mich die Kälte langsam einnimmt. Frierend haste ich die Stufen hinauf, meine Sohle rutscht an der nassen Kante ab und ich taumle nach hinten. Nur meine Fingernägel, die sich hastig in das Holz des Geländers bohren, retten mich vor einem Sturz. Ich taste unter dem Fussabtreter nach dem Hausschlüssel, doch als ich die kleine, fussgrosse Wasserlache vor der Tür sehe, greife ich stattdessen nach der Türklinke. 

Hoffentlich ist er nicht da. Hoffentlich, repetiere ich immer wieder, obwohl die Tatsachen dagegensprechen. Vermutlich ist es nur Mama, sicherlich. Aber wieso sollte sie hier sein? Wieso hier und nicht draussen in der Stadt?

Ich drücke die Türklinge trotzdem runter und trete in völlige Schwärze. Das fahle Licht, aus dem Flur gelangt nur bis kurz über die Schwelle, die Fensterläden sind scheinbar geschlossen, nur Dunkelheit.

"Mama?"

Meine Stimme klingt unsicher in die Stille hinein und als keine Antwort kommt, wiederhole ich sie nochmals. Wieder kommt nichts zurück. Sie schläft.

Ich taste nach dem Schalter der Deckenlampe, doch die Lampe wurde seit unserem Einziehen nie montiert, stattdessen taste ich mir nun langsam meinen Weg durch die Dunkelheit, in die Richtung in der ich die Stehlampe vermute. Ein merkwürdiger Geschmack breitet sich in meinem Rachen aus, metallen, ein wenig süsslich, vermischt mit einem eigentümlichen Gestank. Mein Knie stösst gegen einen Stuhl und ich weiche mit einem leisen Fluchen zur Seite aus, ramme einen weiteren harten Gegenstand, meine Finger krallen sich in weichen Stoff. Warme Flüssigkeit rinnt zwischen ihnen hindurch. 

Mit einem Schreckensschrei taumle ich zurück, hebe meine Hand an mein Gesicht, doch erkenne nur Schwärze. Tastend bewege ich mich weiter dem Möbel entlang und schliesslich umschliessen meine Finger ein dünnes Kabel, finden den Schalter. Dann durchflutet diffuses Licht den Raum und die Schemen meiner Hand werden deutlicher, dunkle rote Flüssigkeit tropft zäh von meinem Daumen. 

Blut. Rotes flüssiges Blut klebt an meinen Finger.

Mein Blick wandert an der Lampe vorbei, bleibt an einem Blutfleck am Boden hängen, weiter hinauf zum rosafarbenen Sofa. Dann beginne ich zu husten. Galle füllt meinen Mund, ich sinke auf die Knie, spucke die bittere stinkende Flüssigkeit aus. Huste wieder, immer wieder. 

Erst langsam bahnt sich das grausige Bild einen Weg zu meinem Verstand, erst jetzt erkenne woher das ganze Blut kommt. Auf dem Sofa liegt jemand. Und dann erkenne ich die blonden mit Blutspritzern verschmierten Haare, die weit aufgerissen hellgrünen Augen. Wie Samuel. 

Blut, grüne Augen, Glas.

"Mama! Mama, schau mich an! Wach auf, bitte, bitte!", bricht es aus mir heraus, während meine Beine in Bewegung kommen, meine Finger sich verzweifelt durch die langen blonden Strähnen einen Weg zu ihrem Hals bahnen. Puls, da ist Puls. Ich muss etwas tun. Was, was soll ich tun? 

Das Blut hat die Decke durchnässt, die auf ihr liegt, tropft auf den billigen Linoleumboden. 

Das ist nicht ihr Herz, das da schlägt, es ist meines. 

Kein Puls, sie atmet nicht. Die Rettung, ich brauche die Rettung. 

Ich stürze auf das Telefon zu, das auf dem Küchentisch liegt, meine Schuhe hinterlassen hellrote Streifen auf dem Boden. Ich vertippe mich. Einmal, zweimal. 

"Feuerwehr und Rettungsdienst Köln. Wo befinden Sie sich? 

"N...eusser Strasse. Kommen Sie bitte schnell, meine Mutter...da ist überall Blut und sie atmet nicht mehr. Verdammt, sie ist tot!", schluchze ich haltlos, während ich zurück zum Sofa strauchle. 

"Ganz ruhig, Junge. Bleib dran, okay? Was ist passiert?"

"Ich weiss nicht...! Ich...was muss ich tun? Ich kann die Blutung nicht stoppen, da ist überall Blut, an ihrem Bauch... ihrer Brust und am Kopf! Was soll ich tun?", keuche ich, während meine Finger verzweifelt die Decke auf die blutende Wunde drücke.

"Ruhig, Junge. Kannst du mir deinen Namen sagen?"

"Andreas, Andreas Stern. Ich, ich muss auflegen...ich muss ihr helfen, sie hat keinen Puls mehr! Bitte kommen Sie schnell!"

"Nein! Andreas! Nicht auflegen! Bleib dran, verstehst du mich? Ich sage dir jetzt was du tun musst, hörst du mich?"

Dass Telefon rutscht mir aus der Hand, die Batterie fällt hinaus. Ich beuge mich über sie, taste nochmals nach ihrem Puls. Nichts. Nur noch mehr Blut. Es kommt aus ihrem Hals, einer klaffenden Halswunde, aus dem Bauch, und aus ihrer Brust. Es ist überall, tropft, rinnt, trocknet, wird zu geronnenen Klumpen und verströmt seinen süsslichen Geruch.

Reanimation, das ist doch das was man bei Herzstillstand tun muss. Aber das Blut das den Boden bedeckt ist so viel. So unglaublich viel. Es müssen Liter sein. 

Ihre Pupillen sind riesig, starr, auch wenn ich die Lampe darauf richte, aus ihrem Mund fliesst ein hellrotes Rinnsal. Ich greife nach ihrer Hand, umfasse die warmen schlaffen Finger und schaffe es sie vom Sofa auf den Boden zu legen. Mein Kopf kann keinen klaren Gedanken fassen, ich drücke so fest ich kann, kann dem Rhythmus selbst nicht folgen. Blut strömt bei jedem Stoss hinaus, ich verliere mich im Zählen der Stösse, drücke wahrscheinlich am falschen Punkt. Mund-zu-Mund Beatmung, wäre doch der nächste Schritt. 

Ich weiss nicht wie es funktioniert. Jetzt kippt ihr Kopf zur Seite, ein Schwall aus Blut quillt heraus. Irgendwo klingen Sirenen. Etwas knackst unter meinen Händen, doch als ich hoffnungsvoll nach dem Puls taste, ist da immer noch nichts. 

Ich weiss wie Tote aussehen. Und das vor mir ist nicht mehr meine Mutter, nur noch eine blutende Leiche. Niemand überlebt das. Niemand. 

Sie ist tot. Sie ist verdammt nochmal tot. 

Kalte Panik packt mich und nur noch ein Gedanke herrscht in meinem Kopf. Ich will hier. Ich muss hier einfach weg. Weg vom Blut. Von Toten, vom Tod, Mama, dieser Wohnung, leeren Augen, gebrochenen Rippen und weiten Pupillen. 

Weg. Weg. Weg. Weg. 

Ich reisse an meinen Haaren, alles verschwimmt, die Kleider kleben an meinem Körper, Blut, Wasser. Mein Gesicht auch. Meine Nägel krallen sich tief in die alten Narben, der Kopf trifft auf den blutverschmierten Boden.

Ich richte mich auf, stolpere über den leblosen Arm, gegen die Lampe, reisse sie um. Taumle zur Tür, hinaus, rutsche auf der Treppe aus. Mein Rücken knallt hart gegen die Stufen. Weiter. 

Es regnet nicht mehr, nur eiskalte scharfe reine Luft. Blaulicht in der Ferne.

SchattenfallWo Geschichten leben. Entdecke jetzt